Reihenfolgen

Meistens schreibe ich hier nur über einzelne Aspekte, ohne dabei das größere Thema zu benennen, in das ich sie einordne. Das mache ich, weil ich es wertvoll finde, kleine Dinge zu betrachten. Kontextualisierung hat auch ihren Wert. Aber da sich meine Texte eh immer in den selben Themenfeldern (sexualisierte Gewalt, geschlechtliche Vielfalt, chronische Krankheit, Zwischenmenschliches) bewegen, finde ich es Quatsch, ständig den Kontext zu benennen. Ab und zu ist das auch okay für mich. Heute ist es mal wieder soweit:

Als ich ein Kind war, gab es in meinem Leben viele Probleme. Diese Probleme hingen hauptsächlich mit der massiven (sexualisierten und anderen) Gewalt zusammen, die ich erlebt habe. Dieser Zusammenhang war mir damals aber nicht bewusst.

Als Kind habe ich außerdem davon geträumt ein Junge zu sein. Genauer gesagt: dass mir ein Penis wächst und ich dann ein Junge bin. Und ich habe mir gewünscht, dass die Probleme verschwinden. Und ich habe geglaubt, dass meine Probleme automatisch verschwinden würden, wenn mir ein Penis wächst und ich dann ein Junge bin. Mir war klar, dass mir von allein kein Penis wachsen wird. Und meine Probleme sind erwartungsgemäß nicht verschwunden.

Im Erwachsenenalter habe ich das alles differenziert analysiert. Ich habe verstanden, dass es keinen Zusammenhang zwischen meinem Geschlecht und meinen Problemen gibt. Und ich habe beschlossen, meine begrenzte Kraft erstmal dafür zu verwenden, die „Probleme“ anzugehen. Dafür habe ich den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen, bin in eine andere Stadt gezogen, mache seit Jahren Therapie, habe diverse Gewaltschutzmaßnahmen ergriffen und setze mich fortlaufend für die Stabilisierung meiner Psyche ein (diese Aufzählung ist nicht zeitlich geordnet). Das war ein Großprojekt. Ich bin mega stolz auf mich, dass ich das geschafft habe. Die Leistung, die ich dafür erbracht habe, könnte ich wegen ihres Ausmaßes als mein Lebenswerk betrachten. Ich könnte mich zurück lehnen, stolz auf mich sein und den Rest meines Lebens genießen. (An dieser Stelle dürft ihr euch beim Lesen vorstellen, wie ich auf einer Bank vor einem Haus sitze und mit mir selbst mit einer Tasse Tee anstoße.)

Wenn da nicht noch die anderen Lebensbereiche wären, in denen ich mir eine Veränderung wünsche. Und da stehe ich wieder an dem Punkt, wo ich mich für eine Reihenfolge der Großprojekte entscheiden muss, weil meine Kraft begrenzt ist. Diese Entscheidung hatte ich schon mal getroffen: erst möchte ich Kinder bekommen (die in meinem Bauch wachsen sollen). So lange warte ich noch mit einem „richtigen“ trans Outing. (Falls es sowas überhaupt gibt. Ich bin ja ein großer Outing-Kritiker. 1. Weil ich es doof finde, dass die „Gesellschaft“ ein Outing erwartet. 2. Weil ich nicht daran glaube, dass „Outing“ als scheinbar einmaliges Ereignis betrachtet werden kann. Ich habe mich schon hundert mal „geoutet“ und bin immer noch nicht „richtig“ geoutet. Vielleicht schwer vorstellbar für Menschen, die an ein „Outing“-Konzept glauben.)

Mir kommt diese Reihenfolge logisch vor. Schwangerschaft wird so stark mit Weiblichkeit (genauer gesagt: cis Weiblichkeit) verknüpft. Und ich kann mir nicht vorstellen, mit männlichem Vornamen in einem Geburtsvorbereitungskurs zu sitzen. Ich möchte (zusätzlich zu den anderen Herausforderungen einer Schwangerschaft) nicht auch noch die Skepsis und Transfeindlichkeit anderer Menschen aushalten müssen, wenn ich schwanger bin. Ich stelle mir eine Schwangerschaft und Geburt ohnehin schon als Herausforderung vor, weil ich ja chronisch krank bin.

In letzter Zeit hatte ich starke Zweifel an meinem Plan. Das lag vor allem daran, dass es mir wieder schlechter ging und ich mir vorgestellt habe, dass eine Schwangerschaft für mich zu anstrengend ist. Mir ist aufgefallen, dass ich viel zu hohe Erwartungen an mich selbst habe: Ich hatte erwartet, dass ich „irgendwie“ Schwangerschaft und chronische Krankheit unter einen Hut bekomme – ohne Murren und Knurren. Das ist aber wohl sehr unrealistisch.

Es ist ja immer noch ein großes Tabu, dass auch Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit (oder beidem) Kinder bekommen können/wollen. Ich gehöre auch dazu. Und ich fühle mich ganz schön erschlagen, wenn ich die verschiedenen großen Themen meines Lebens in einem Atemzug denke. „Kinder bekommen“ und „chronisch krank sein“ zusammen zu denken ist mir schon anspruchsvoll genug. Und auch ich neige dazu, komplexe Zusammenhänge auszublenden, wenn ich sie nicht integrieren kann. Deshalb stelle ich das Gender-Thema hinten an. Ich weiß ja auch noch gar nicht, wie es mir in Bezug auf mein Gender geht, wenn ich Kinder habe. Ich gehe zwar davon aus, dass ich dann immer noch männlich bin, aber die Frage ist ja: was möchte ich dann von meinem Gender zeigen und was nicht.

Und wenn ich mich mit der Frage beschäftige, welche Großprojekte ich wann (wie und ob überhaupt) anpacken möchte, habe ich immer den Gedanken dabei: Gefährdet das meine Stabilität und bin ich bereit dieses Risiko einzugehen? Diese Frage ist für mich viel wichtiger als das Durchziehen kraftraubender (kleiner und großer) Projekte.

Ich bin genervt, weil ich schon ziemlich lange nach einem Co-Parent suche. Das schwierigste ist, überhaupt einen ersten Kontakt herzustellen zu Personen, die dafür in Frage kommen. Irgendwie hat sich das Modell „Co-Parenting“ noch nicht so richtig rum gesprochen und es gibt nur sehr wenige Personen, die das wollen. Diese zu finden ist echt schwer. (Aber es fällt mir sehr leicht aus dieser Personengruppe diejenigen auszusortieren, die zwar sagen, dass sie ein Co-Parenting wollen, aber in Wirklichkeit etwas völlig anderes vor Augen haben als ich. Etwas, das ich als „Samenspende“ bezeichnen würde. Oder etwas, das ich als „Partnerschaftswunsch mit daran gekoppelten Kinderwunsch“ bezeichnen würde.) Und bis jetzt war es immer so, dass die Personen, bei denen ich mir vorstellen konnte über ein Co-Parenting ernsthaft zu verhandeln, mir abgesagt haben. Das ist bitter. Und ich bin genervt davon, dass ich zusätzlich zu den anderen Herausforderungen des Lebens auch noch im Bereich „Suche nach einem Co-Parent“ meine Frusttrationsschwelle anheben muss.

Und sonst so? Ich finde es anstrengend, ich zu sein. Ich wünsche mir mehr Leichtigkeit. Aber Sport tut mir gut, Tanzvideos anschauen auch, der Frühling erst recht! Und da ich gerade eine ersthafte Krise hinter mir habe, bin ich gerade dankbar dafür, dass es mir (in Anbetracht der Dimensionen des Dramas) doch relativ gut geht.

Grenze

Ich schreibe viel zu selten. In mir drin und um mich herum passiert viel. Und ich denke immer wieder: dazu will ich was schreiben. Und dann mache ich es doch nicht. Obwohl ich weiß, wie sehr mir das Schreiben hilft um mich zu sortieren und zu erleichtern. Heute mache ich es einfach mal.
Ich habe Grenzen. Genau wie andere Menschen auch. In meiner Therapie habe ich vor ein paar Jahren gelernt, wie wichtig es ist, dass ich nicht über meine Grenze gehe. Und wie ich meine Grenze erkennen kann. Und wie ich mich verhalten kann um innerhalb meiner Grenze zu bleiben. Das habe ich dann auch einige Zeit gemacht. Und es war gut. Gut, weil es für mich heilsam war zu erleben, wie es ist, wenn ich im Normalfall innerhalb meiner Grenze bleibe. Und weil dadurch mein Stresslevel reduziert war. Und weil ich nach und nach immer mehr Dinge selbst in die Hände nehmen konnte und weniger von unerfüllten Bedürfnissen getrieben war.
Der Nachteil von meiner damaligen Methode meine Grenzen zu schützen war, dass ich mich selbst als „krank“ gegenüber anderen Menschen dargestellt habe. Ich habe meine „Krankheit“ vorgeschoben um anderen Menschen meine Grenzen nennen zu können.
Ich mag es nicht, so ein negativ besetztes Persönlichkeitsmerkmal wie eine „Krankheit“ zu haben.
Vor einem Jahr bin ich in eine andere Stadt gezogen. Dort habe ich neue Kontakte geknüpft und konnte noch mal gezielter entscheiden, was ich über mich sagen möchte und was nicht. Ich habe versucht so oft wie möglich nicht zu sagen, dass ich „krank“ bin. Weil ich nicht wollte, dass die Menschen, die ich kennen gelernt habe, mich als „krank“ ansehen.
Das hatte den Nachteil, dass ich mein gewohntes Grenzziehungs-Muster nicht mehr anwenden konnte. Ich konnte nicht mehr sagen: „Ich habe hier eine Grenze, weil ich krank bin.“ Weil ich ja nicht sagen wollte, dass ich krank bin. Also habe ich sehr oft auch darauf verzichtet zu sagen, dass ich eine Grenze habe. Und ich habe meine Grenze selbst auch oft überschritten. Viel zu oft.
So oft, dass ich mich daran gewöhnt habe, wie es ist, wenn meine Grenze regelmäßig überschritten ist. Und das war gar nicht gut.
Jetzt habe ich mir wieder vorgenommen, meine Grenze regelmäßig zu wahren.
Und ich frage mich, wie ich anderen Menschen meine Grenze plausibel machen kann ohne von „Krankheit“ zu sprechen.

nicht kommunizieren

Was passiert eigentlich, wenn ein Mensch versucht herauszufinden, was in einem anderen Menschen vor sich geht, und währenddessen keinen oder nur sehr wenig Kontakt zu ihm hat? Ist es reine Spekulation, was er da betreibt? Oder hat er eine Chance „die Wahrheit“ herauszufinden?

Ja, ich zweifle an, dass es eine objektive „Wahrheit“ gibt. Und ja, ich zweifle an, dass ein Mensch in der Lage ist einen anderen (im großen Ganzen) zu verstehen. Und ich glaube, dass dieses Verstehen umso schwerer wird, je weniger Kontakt es zwischen diesen Menschen gibt. Aber verlockend ist die Aussicht schon … sich in einen anderen Menschen so sehr hinein versetzen können, dass man weiß, wie derjenige tickt.

Welches Bedürfnis befriedigt sich eigentlich ein Mensch, der das versucht? Nähe, Anteilnahme, Mitgefühl, Wertschätzung, Aufmerksamkeit, Verständnis, Wahrnehmen, Einzigartigkeit, Einbezogen-Sein, Gemeinsamkeit, Kameradschaft/Freundschaft, Verbundenheit mit dem Leben, Entdecken, Verstehen, Herausforderung, Lernen, Entwicklung, Stimmigkeit?

Nicht jede Handlungsstrategie, mit der ein Bedürfnis befriedigt werden soll, führt auch zu einer Befriedigung des Bedürfnisses.

Wie gehe ich eigentlich damit um, wenn mir jemand sagt, dass er genau weiß, was meine Absichten sind, ohne mit mir über meine Absichten gesprochen zu haben? Zunächst einmal verletzt es mich, dass ich nicht befragt wurde, obwohl es doch um mich geht.

Ich bin einfach völlig verletzt. Und ratlos. Ich habe ein unerfülltes Bedürfnis nach Wahrgenommen-Sein und nach Respekt.

Und ich bin wütend. Ich würde dem Menschen gern sagen, dass ich auf ihn wütend bin. Aber ich zögere, weil ich Angst vor dem Konflikt habe. Das Thema „verletzt sein und sich Respekt wünschen“ habe ich bereits angesprochen. Das Gespräch ist eskaliert, die Verletzungen sind (vermutlich auf beiden Seiten) größer geworden, die Abwehrmechanismen auch. Diese Erfahrung lässt mich zögern meine Wut anzusprechen. Da ringen mein Bedürfnis nach Harmonie und mein Bedürfnis nach Authentizität miteinander.

Ich bin völlig ratlos. Ich weiß einfach nicht, was ich tun kann und will.

Wenn ich über eine lange Zeit hinweg die Empathiearmut und Kommunikationsprobleme eines Menschen kompensiert habe, dann mit meinem Kompensationsverhalten aufgehört habe, und jetzt mit demjenigen zwischenmenschliche Widrigkeiten besprechen will … besteht dann überhaupt eine Chance auf Annäherung und Klärung auf Augenhöhe und ohne Wiedereinstieg in das langerprobte Kompensationsverhalten? Ich weiß es nicht. Aber ich wüsste es gern. Wenn ich das wüsste, könnte ich viel leichter entscheiden, wie ich mich verhalten will. So aber bin ich einfach nur ratlos.

-Lied des Tages-

Ende gut, alles gut

Und wieder stehe ich da und habe Konflikte. Da kommt die Frage auf, in welchen zwischenmenschlichen Interaktionen will ich mich engagieren? Und wie? Und mit welchem Ziel? Und aus welchem Grund?

Auf einer anderen Ebene ist dann da die Frage, warum ausgerechnet ich derjenige bin, der in dieser Interaktion Engagement als Handlungsoption in Betracht zieht. Und warum schon wieder. Und warum ich mir solche zwischenmenschliche Konstellationen schaffe.

Ich will nicht um Verständnis für meine Position, mein Verhalten und alles, was dahinter liegt, werben. Das habe ich schon oft genug erfolglos getan. Dadurch wurden die Vorwürfe, die mir gemacht wurde, nur noch mehr und differenzierter.

Und ich will auch nicht Verständnis für das Gegenüber zeigen. Das habe ich auch schon oft genug getan. Und es hat dazu geführt, dass ich den Handlungsstrategien des Gegenübers mehr Raum gegeben habe als den eigenen. Damit habe ich mir mein Bedürfnis nach Harmonie und Gemeinsamkeit befriedigt und gleichzeitig andere Bedürfnisse vernachlässigt.

In dieser Interaktion ist der Zug bereits abgefahren. Es geht nur noch darum, den entstandenen Scherbenhaufen zusammen zu fegen und weg zu räumen. Aber auch dafür braucht es Kooperation.

Ich wünsche mir, mit der Beziehung und ihrem Ende im Reinen zu sein. Aber ich schaffe es nicht. Ich glaube, das liegt daran, dass ich mir nicht verzeihen kann, dass ich so oft nachgegeben habe. Ich glaube, es lohnt sich, noch mal genauer auf das Nachgeben zu schauen, denn das ist ein Dauerbrennerthema.

Innen-Kommunikation

Wir schreiben den Blog ja so, als wäre es das selbstverständlichste der Welt, dass wir Viele sind; als gäbe es da nichts weiter dazu zu kommentieren oder erklären. Das liegt daran, dass wir nicht speziell übers Viele-Sein schreiben wollen, sondern darüber, was wir erleben und was uns beschäftigt in Hinblick auf die Bewältigung der Probleme, die uns durch die komplexe Traumatisierung entstanden sind. Wir sehen das Viele-Sein als einen Teil der Traumafolgen, aber nicht als den wichtigsten.

Im Moment müssen wir gerade eine Entscheidung fällen, die sehr schwer fällt, weil wir Viele sind und weil es innen sehr viele und sehr verschiedene Standpunkte zu der Fragestellung gibt. Die Gelegenheit möchte ich nutzen, um hier mal aufzuschreiben, wie wir unsere interne Kommunikation bei Konflikten strukturieren.

Im aktuellen Fall ist es so, dass ein Außenmensch auf unsere Antwort wartet. Er weiß, dass wir Viele sind, und irgendwie weiß er auch, dass es uns schwer fällt, eine Entscheidung zu fällen. Zunächst haben wir also erstmal den Druck von außen reduziert, indem wir gesagt haben, dass wir das erstmal intern besprechen müssen und dass wir dafür bestimmt eine Woche Zeit brauchen. Der Außenmensch war so nett, sich darauf einzulassen und wartet jetzt ganz brav und ohne Drängeln auf die Antwort. Es hilft uns schon mal enorm, Zeit zu haben, das intern zu besprechen. Und es hilft uns auch, dass eine mehr oder weniger konkrete Zeitspanne zum Fällen der Entscheidung vorhanden ist. Klare Rahmenbedingungen geben uns immer Orientierung, das betrifft auch den Zeitrahmen.

Am Tag nach dem Gespräch mit dem Außenmensch haben wir beschlossen, wie wir die Kommunikation strukturieren wollen und haben uns dabei für eine bewährte Form entschieden. Dann hat es noch mal einen Tag gedauert, bis wir mit der „eigentlichen“ Struktur angefangen haben. Diese scheinbar langen Vorlaufzeiten sind für uns wichtig. Es dauert schließlich eine Weile, bis sich innen rum spricht, was gerade außen los ist. Und außerdem muss sich jeder Einzelne von uns erstmal einen Überblick über die Situation verschaffen und dann raus finden, was er meint, befürchtet, will etc. Natürlich gibt es innen auch eine Menge Leute, die sich aus dem Prozess raus halten. Erfahrungsgemäß ist es aber so, dass eine lange Vorlaufzeit und lange Entscheidungsfindungsphase dazu beiträgt, dass sich das Thema innen immer weiter rum spricht. Dann können bei der strukturierten Kommunikation auch mehr teilnehmen.

Zwei Tage nach dem Gespräch mit dem Außenmensch haben wir dann mit der strukturierten Kommunikation begonnen. Unstrukturiert wurde ja schon vorher kommuniziert.

Wir haben übrigens eine „innere Landschaft“, in der es einen Ort gibt, an dem die „Konferenz“ tagt. Die „Konferenz“ ist ein temporärer und freiwilliger Zusammenschluss aller Innenpersonen, die sich zu einem bestimmten Thema äußern wollen oder dabei sein wollen, wenn die anderen darüber reden. Wir haben also eine Konferenz einberufen und gleichzeitig in der Außenwelt einen gut sichtbaren Zettel aufgehängt und einen Stift daneben gelegt. Auf dem Zettel haben wir die Frage aufgeschrieben, über die wir sprechen müssen. Innen war ein großes Durcheinander. Deshalb war es auch nicht möglich, dass einer nach dem anderen redet, oder gar, dass alle Anwesenden zuhören, wenn einer redet. Das ist aber auch in Ordnung so. Wichtig ist ja, dass trotzdem jeder gehört wird. Und das geht so: ich höre mir das Durcheinander an Äußerungen an. Dabei versuche ich die einzelnen Meinungen raus zu hören (was nicht immer geht). Wenn ich eine Einzelmeinung gefunden habe, formuliere ich in meinen Worten, was derjenige meinen könnte. Wenn derjenige dann nicht protestiert, werte ich das als Zustimmung und notiere seine Meinung auf dem Zettel in der Außenwelt. Meistens sind das Kurzäußerungen wie „lass mich in Ruhe“ oder „wehe, wenn die Welt kaputt geht“. Ausführlichere Äußerungen sind eher selten. Durch das Aufschreiben wird das Durcheinanderreden im Laufe der Zeit weniger. Wer nämlich mitbekommt, dass er gehört wurde und versprochen bekommen hat, dass seine Meinung oder Befürchtung oder Hoffnung oder Wasauchimmer berücksichtigt wird, hört meistens auf, seine Äußerung immer wieder zu wiederholen. Manchen Innenpersonen haben danach noch mehr oder Anderes oder Ausführlicheres zu berichten, das wird dann auch notiert. Und dann gibt es natürlich auch noch Rückmeldungen von Innenpersonen auf die Äußerungen anderer Innenpersonen, die auch notiert werden. Und dann sind da noch die, die in dem Durcheinander nichts sagen, sondern erst mit Reden anfangen, wenn es stiller wird, oder wenn sie direkt angesprochen werden. Im Laufe der Zeit werden die Kurzäußerungen weniger, dafür gibt es mehr Äußerungen, die sich konkret auf den Kontext beziehen oder bestimmte Aspekte beleuchten oder Begründungen beinhalten wie „ich will keine Veränderungen. mir ist das zu anstrengend, mit den Anderen so viel über Veränderungen reden zu müssen. deshalb soll alles so bleiben, wie es ist.“

All das dauert sehr lange. Wir machen das nicht am Stück, sondern über Tage verteilt. Immer wenn innen jemand was zum Thema sagt, wird das aufgeschrieben. Der Zettel hängt jetzt seit gestern in der Wohnung, und wir sind im Moment in der Phase, wo die Äußerungen seltener kommen. Dafür werden sie aber differenzierter und gehen öfter auf schon Geäußertes ein. Wir hatten zwischenzeitlich schon mal eine deutliche Tendenz für die Entscheidung. Das hat auch noch mal die Meinungen verstärkt, die genau diese Richtung nicht einschlagen wollen.

Irgendwann, wenn es innen noch ruhiger geworden ist, werden wir lesen, was auf dem Zettel steht. Das passiert bei uns nämlich erst am Schluss. Durch das Lesen gibt es manchmal noch mehr Äußerungen, die auf das Geschriebene eingehen. Die werden dann auch noch notiert. Wenn wir den Zettel vor versammelter Konferenz lesen können, ohne dass noch mehr Äußerungen kommen, warten wir noch mal ca. eine Stunde ab. Wenn es dann innen immer noch ruhig ist, gehen wir davon aus, dass endlich jeder, der etwas sagen wollte, sich zu dem Thema geäußert hat.

Erst dann fangen wir an, das Ganze zu sortieren. Wir haben nämlich gemerkt, dass es bei uns keinen Sinn hat, die Meinungen zu bewerten, wenn noch gar nicht alles gesagt wurde. Wenn wir nämlich bewerten, fühlen sich innen manche übergangen, sind eingeschnappt und sagen dann gar nichts mehr. Um dem vorzubeugen, warten wir, bis sich alle geäußert haben, die etwas sagen wollen. Dann können wir in der Bewertungsphase nämlich auch die Meinungen derer berücksichtigen, die sich dann nicht mehr zu Wort melden (wollen).

Ja, und irgendwann steht dann eine Entscheidung. Meistens führt das dazu, dass dann diejenigen getröstet werden müssen, die die Entscheidung doof finden. Oft muss für sie dann ein Ausgleich geschaffen werden. Das ist dann meistens sehr emotional.

Zur Zeit befürchte ich, dass wir es im aktuellen Fall nicht schaffen, bis zum Ablauf der Woche alle Innenpersonen zu beruhigen. Es fällt mir schwer, damit umzugehen. Und es macht mich traurig.

Ein Notfallprogramm für Krisenzeiten

Ich wollte hier mal ein einfaches Programm vorstellen, dass wir uns vor Jahren mal ausgedacht haben, um ein wenig Halt in schweren Krisen zu haben. Dabei geht es darum, bestimmte Lebensbereiche jeden Tag abzudecken. Es geht nicht darum, etwas „gut“ hinzukriegen, sondern einfach nur überhaupt an ganz grundlegenden Aspekten des Lebens regelmäßig dran zu bleiben. Ein „Tag“ ist dabei ein Intervall von 24 Stunden, wobei nicht festgelegt ist, wann dieses Intervall beginnt.

Schlafen: Die Aufgabe ist, jeden Tag mindestens einmal zu schlafen. Dabei ist egal, wie lange oder intensiv geschlafen wird, Hauptsache es wird überhaupt geschlafen.

Essen: Jeden Tag soll mindestens einmal gegessen werden. Egal was, egal wieviel, Hauptsache dieser Lebensbereich wird abgedeckt.

Hygiene: Jeden Tag soll irgendwas gemacht werden, das der Körperhygiene dient. Das kann schon ein einfaches Händewaschen sein, oder auch Zähneputzen. Wichtig ist nicht, was oder wie ausgiebig das gemacht wird.

Wohnung verlassen: Einmal am Tag soll die Wohnung verlassen werden. Es gilt z. B. zum Briefkasten zu gehen oder Müll runter zu bringen.

Kommunikation: Mit irgendeinem Menschen soll mindestens einmal am Tag kommuniziert werden. Das kann ein „Guten Tag“ beim Müll runter bringen sein, oder eine kurze SMS.

Das Programm sieht vor, diese fünf Lebensbereiche auch in Krisenzeiten abzudecken. Es ist dabei nicht wichtig, wirklich jeden Tag alles zu machen. Es kann auch mal einen Tag lang ein Lebensbereich ausfallen. Aber das soll nur ausnahmsweise der Fall sein.

Dieses Notfallprogramm haben wir uns mal vor ein paar Jahren ausgedacht, als wir über längere Zeit nicht ein noch aus wussten. Zu der Zeit war es hilfreich sich daran zu halten. Inzwischen hat sich das Verhältnis zu dem Notfallprogramm geändert. Es ist gut zu wissen, dass wir im Bedarfsfall darauf zurück greifen können. Aber wir haben schon lange keine Liste mehr gemacht, auf der wir diese fünf Punkte abgehakt haben. Ich weiß nicht genau, woran das liegt. Aber ich vermute, dass sich da schon was automatisiert hat.