Reihenfolgen

Meistens schreibe ich hier nur über einzelne Aspekte, ohne dabei das größere Thema zu benennen, in das ich sie einordne. Das mache ich, weil ich es wertvoll finde, kleine Dinge zu betrachten. Kontextualisierung hat auch ihren Wert. Aber da sich meine Texte eh immer in den selben Themenfeldern (sexualisierte Gewalt, geschlechtliche Vielfalt, chronische Krankheit, Zwischenmenschliches) bewegen, finde ich es Quatsch, ständig den Kontext zu benennen. Ab und zu ist das auch okay für mich. Heute ist es mal wieder soweit:

Als ich ein Kind war, gab es in meinem Leben viele Probleme. Diese Probleme hingen hauptsächlich mit der massiven (sexualisierten und anderen) Gewalt zusammen, die ich erlebt habe. Dieser Zusammenhang war mir damals aber nicht bewusst.

Als Kind habe ich außerdem davon geträumt ein Junge zu sein. Genauer gesagt: dass mir ein Penis wächst und ich dann ein Junge bin. Und ich habe mir gewünscht, dass die Probleme verschwinden. Und ich habe geglaubt, dass meine Probleme automatisch verschwinden würden, wenn mir ein Penis wächst und ich dann ein Junge bin. Mir war klar, dass mir von allein kein Penis wachsen wird. Und meine Probleme sind erwartungsgemäß nicht verschwunden.

Im Erwachsenenalter habe ich das alles differenziert analysiert. Ich habe verstanden, dass es keinen Zusammenhang zwischen meinem Geschlecht und meinen Problemen gibt. Und ich habe beschlossen, meine begrenzte Kraft erstmal dafür zu verwenden, die „Probleme“ anzugehen. Dafür habe ich den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen, bin in eine andere Stadt gezogen, mache seit Jahren Therapie, habe diverse Gewaltschutzmaßnahmen ergriffen und setze mich fortlaufend für die Stabilisierung meiner Psyche ein (diese Aufzählung ist nicht zeitlich geordnet). Das war ein Großprojekt. Ich bin mega stolz auf mich, dass ich das geschafft habe. Die Leistung, die ich dafür erbracht habe, könnte ich wegen ihres Ausmaßes als mein Lebenswerk betrachten. Ich könnte mich zurück lehnen, stolz auf mich sein und den Rest meines Lebens genießen. (An dieser Stelle dürft ihr euch beim Lesen vorstellen, wie ich auf einer Bank vor einem Haus sitze und mit mir selbst mit einer Tasse Tee anstoße.)

Wenn da nicht noch die anderen Lebensbereiche wären, in denen ich mir eine Veränderung wünsche. Und da stehe ich wieder an dem Punkt, wo ich mich für eine Reihenfolge der Großprojekte entscheiden muss, weil meine Kraft begrenzt ist. Diese Entscheidung hatte ich schon mal getroffen: erst möchte ich Kinder bekommen (die in meinem Bauch wachsen sollen). So lange warte ich noch mit einem „richtigen“ trans Outing. (Falls es sowas überhaupt gibt. Ich bin ja ein großer Outing-Kritiker. 1. Weil ich es doof finde, dass die „Gesellschaft“ ein Outing erwartet. 2. Weil ich nicht daran glaube, dass „Outing“ als scheinbar einmaliges Ereignis betrachtet werden kann. Ich habe mich schon hundert mal „geoutet“ und bin immer noch nicht „richtig“ geoutet. Vielleicht schwer vorstellbar für Menschen, die an ein „Outing“-Konzept glauben.)

Mir kommt diese Reihenfolge logisch vor. Schwangerschaft wird so stark mit Weiblichkeit (genauer gesagt: cis Weiblichkeit) verknüpft. Und ich kann mir nicht vorstellen, mit männlichem Vornamen in einem Geburtsvorbereitungskurs zu sitzen. Ich möchte (zusätzlich zu den anderen Herausforderungen einer Schwangerschaft) nicht auch noch die Skepsis und Transfeindlichkeit anderer Menschen aushalten müssen, wenn ich schwanger bin. Ich stelle mir eine Schwangerschaft und Geburt ohnehin schon als Herausforderung vor, weil ich ja chronisch krank bin.

In letzter Zeit hatte ich starke Zweifel an meinem Plan. Das lag vor allem daran, dass es mir wieder schlechter ging und ich mir vorgestellt habe, dass eine Schwangerschaft für mich zu anstrengend ist. Mir ist aufgefallen, dass ich viel zu hohe Erwartungen an mich selbst habe: Ich hatte erwartet, dass ich „irgendwie“ Schwangerschaft und chronische Krankheit unter einen Hut bekomme – ohne Murren und Knurren. Das ist aber wohl sehr unrealistisch.

Es ist ja immer noch ein großes Tabu, dass auch Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit (oder beidem) Kinder bekommen können/wollen. Ich gehöre auch dazu. Und ich fühle mich ganz schön erschlagen, wenn ich die verschiedenen großen Themen meines Lebens in einem Atemzug denke. „Kinder bekommen“ und „chronisch krank sein“ zusammen zu denken ist mir schon anspruchsvoll genug. Und auch ich neige dazu, komplexe Zusammenhänge auszublenden, wenn ich sie nicht integrieren kann. Deshalb stelle ich das Gender-Thema hinten an. Ich weiß ja auch noch gar nicht, wie es mir in Bezug auf mein Gender geht, wenn ich Kinder habe. Ich gehe zwar davon aus, dass ich dann immer noch männlich bin, aber die Frage ist ja: was möchte ich dann von meinem Gender zeigen und was nicht.

Und wenn ich mich mit der Frage beschäftige, welche Großprojekte ich wann (wie und ob überhaupt) anpacken möchte, habe ich immer den Gedanken dabei: Gefährdet das meine Stabilität und bin ich bereit dieses Risiko einzugehen? Diese Frage ist für mich viel wichtiger als das Durchziehen kraftraubender (kleiner und großer) Projekte.

Ich bin genervt, weil ich schon ziemlich lange nach einem Co-Parent suche. Das schwierigste ist, überhaupt einen ersten Kontakt herzustellen zu Personen, die dafür in Frage kommen. Irgendwie hat sich das Modell „Co-Parenting“ noch nicht so richtig rum gesprochen und es gibt nur sehr wenige Personen, die das wollen. Diese zu finden ist echt schwer. (Aber es fällt mir sehr leicht aus dieser Personengruppe diejenigen auszusortieren, die zwar sagen, dass sie ein Co-Parenting wollen, aber in Wirklichkeit etwas völlig anderes vor Augen haben als ich. Etwas, das ich als „Samenspende“ bezeichnen würde. Oder etwas, das ich als „Partnerschaftswunsch mit daran gekoppelten Kinderwunsch“ bezeichnen würde.) Und bis jetzt war es immer so, dass die Personen, bei denen ich mir vorstellen konnte über ein Co-Parenting ernsthaft zu verhandeln, mir abgesagt haben. Das ist bitter. Und ich bin genervt davon, dass ich zusätzlich zu den anderen Herausforderungen des Lebens auch noch im Bereich „Suche nach einem Co-Parent“ meine Frusttrationsschwelle anheben muss.

Und sonst so? Ich finde es anstrengend, ich zu sein. Ich wünsche mir mehr Leichtigkeit. Aber Sport tut mir gut, Tanzvideos anschauen auch, der Frühling erst recht! Und da ich gerade eine ersthafte Krise hinter mir habe, bin ich gerade dankbar dafür, dass es mir (in Anbetracht der Dimensionen des Dramas) doch relativ gut geht.

Normalität

Sonst ignoriere ich Ostern eigentlich. Ich behandle das normalerweise wie einen ganz normalen freien Tag, der aber inhaltlich keine besondere Bedeutung hat und mit keinen Ritualen verbunden ist.
Ich merke, dass ich mich an Ostern hinter der Normalität verstecke, damit ich nicht darüber nachdenken muss, dass Ostern früher ja mal ein Fest war, das ich mit meiner Familie verbracht habe. Und darüber, dass das jetzt anders ist. Und darüber, dass das Gründe hat.
Dieses Jahr kann ich mich nicht so gut hinter der Normalität verstecken, weil die Pandemie dazu geführt hat, dass mein Alltag seit einem Monat ganz anders ist als sonst. Ich bin seit einem Monat an einem anderen Ort als normalerweise, habe keine regelmäßigen Termine, ab und zu eine Videokonferenz, und nähe fleißig Gesichtsmasken. Inzwischen habe ich mich an den neuen Alltag gewöhnt. Aber jetzt ist Ostern und ich bin unruhig. Ich merke, dass ich jetzt gern eine seit langer Zeit bekannte alltägliche Routine hätte, die es mir leicht macht, Ostern zu ignorieren. Die habe ich jetzt aber nicht.
Und sonst so? Ich war gestern mal kurz in meiner Wohnung und habe ein paar Sachen geholt. Es war seltsam dort zu sein. Dort, wo alles so vertraut und doch schon etwas fremd geworden ist im letzten Monat. Ich habe mal wieder festgestellt, wie wenig mir die meistens Dinge bedeuten, die ich besitze. Wenn ich meine komplette Kücheneinrichtung von jetzt auf gleich abgeben würde, würde mir meine Lieblingskaffeetasse gar nicht fehlen. Gestern hatte ich sie in der Hand und habe gemerkt, dass ich sehr gut auch ohne sie klar komme. Ich glaube, es ist mal wieder an der Zeit, meinen materiellen Besitz durchzusortieren und einiges abzugeben. Ich habe mal wieder viel zu viel Zeug. Das kann ich allerdings erst nach der Pandemie machen, wenn ich wieder öfter zu Hause bin.

Erfahrungsbericht Elternabfrage, Teil 2

Nachdem ich mir Hilfe beim Bürgerbeauftragen geholt habe, hat sein Mitarbeiter Kontakt zum Sozialamt aufgenommen von dem Moment an alles für mich geregelt. Ich hatte seitdem keinen Kontakt mehr zum Sozialamt, dafür aber mehrere Telefonate, Emails und Briefwechsel mit dem Mitarbeiter des Bürgerbeauftragten.
Der Mitarbeiter des Bürgerbeauftragten hat sich für mich stark gemacht. Er hat versucht zu erreichen, dass meine Eltern meinen Wohnort nicht erfahren, indem das Sozialamt sie anschreibt. Gleichzeitig hat er aber auch das Anliegen des Sozialamts anerkannt, meine Eltern zum Unterhalt heran zu ziehen, weil ich ja Leistungen vom Sozialamt bzw vom Steuerzahler bekomme und die Rechtslage vorsieht, dass vorrangig meine Eltern unterhaltspflichtig sind und erst, wenn sie ihrer Pflicht nicht nachkommen können, ergänzend Leistungen vom Sozialamt erbracht werden.
Es war für den Mitarbeiter des Bürgerbeauftragten schwierig, dem Sozialamt verständlich zu machen, wie wichtig es für meine Sicherheit ist, dass meine Eltern meinen Wohnort nicht erfahren. Es ist ganz einfach deshalb so wichtig, weil von meinem Vater meiner Einschätzung nach die Gefahr weiterer gewalttätiger Übergriffe ausgeht. Es geht also um den Schutz meiner Gesundheit, eventuell auch meines Lebens.
Zuerst wurde ich vom Mitarbeiter des Bürgerbeauftragten gebeten, ein Attest von meinem Hausarzt vorzulegen, aus dem hervor geht, dass meine Gesundheit gefährdet ist, wenn meine Eltern meinen Wohnort erfahren. Das hat mein Hausarzt mir ausgestellt. Ich habe es dem Mitarbeiter des Bürgerbeauftragten geschickt. Er hat es dem Sozialamt geschickt. Das Sozialamt wollte das nicht als triftigen Grund anerkennen.
Dann habe ich dem Mitarbeiter des Bürgerbeauftragten Klinikunterlagen zugeschickt. Die hat er geschwärzt und dem Sozialamt zugeschickt. Das Sozialamt wollte die darin aufgeführten gewalttätigen Übergriffe meines Vaters in der Vergangenheit nicht als triftigen Grund ansehen, von der üblichen Elternabfrage abzusehen. Das hat mir der Mitarbeiter des Bürgerbeauftragten Anfang Februar telefonisch mitgeteilt. Und auch, dass er jetzt keine weiteren Argumentationsmöglichkeiten gegenüber dem Sozialamt mehr sieht. In dem Moment hatte ich mich aber schon für eine Anzeige entschieden. Und ich hatte das auch schon konkret geplant. Also habe ich einige Tage später die Anzeige erstattet und die Bestätigung der Anzeigenerstattung dem Mitarbeiter des Bürgerbeauftragten geschickt. Er hat es dem Sozialamt geschickt.
Dann hat es noch 2 Monate gedauert, in denen ich nicht weiß, was da noch kommuniziert wurde. Jedenfalls habe ich vor wenigen Tagen einen Anruf bekommen vom Mitarbeiter des Bürgerbeauftragten, dass das Sozialamt jetzt zugestimmt hat, meine Eltern nicht direkt anzuschreiben und meinen Wohnort nicht bekannt zu geben. Sie haben jetzt Amtshilfe bei einem anderen Sozialamt beantragt, das die Elternabfrage jetzt durchführen wird.
Mit anderen Worten: das Sozialamt bekommt, was es will (nämlich Informationen über das Einkommen meiner Eltern), und ich bekomme, was ich will (nämlich die Anonymität meines Wohnorts).
Vermutlich müssen meine Eltern gar keinen Unterhalt zahlen, weil sie eh kein großes Einkommen haben. Es war also viel Aufwand und wahrscheinlich wurden durch das ganze Hin und Her mehr Steuergelder ausgegeben als durch den Unterhalt eingespart werden.
Und dass ein anderes Sozialamt ja um Amtshilfe gebeten werden könne, hatte ich auch von vornherein vorgeschlagen.
Ich fühle mich durcheinander. Einerseits bin ich riesig froh, dass meine Eltern auf diesem Weg nicht erfahren, wo ich wohne. Andererseits finde ich den ganzen Aufwand und die monatelangen Diskussionen ziemlich überflüssig, weil ich schon am Anfang dem Sozialamt gesagt habe, dass meine Eltern eh wenig Geld haben. Und dann fühle ich mich auch noch nicht gewürdigt, weil mein Anliegen (Schutz von Leib und Leben) vom Sozialamt als so gering geachtet wurde, dass ich es mit meinen eigenen Argumenten (und ich war mehrmals mit dem Anliegen dort, habe mit drei verschiedenen Mitarbeitern gesprochen und es auch mehrfach schriftlich formuliert) nicht wichtig genommen wurde. Es ist echt zwiespältig, was da in mir vor geht. Aber es ist gut, dass es jetzt diese Lösung gibt. Und darauf konzentriere ich mich.

Erfahrungsbericht Elternabfrage

Ich bekomme Leistungen nach SGB XII Kapitel 3. Ich bin also voll erwerbsgemindert, aber nicht auf Dauer. Dafür habe ich ein Gutachten. Das aktuelle Gutachten geht noch mehr als 2 Jahre, danach muss ein neues Gutachten angefertigt werden. Ich bin schon seit 2013 voll erwerbsgemindert, aber bisher waren meine Gutachten immer zeitlich befristet. Wenn ein Gutachter mal den Mumm hat, mich unbefristet als voll erwerbsgemindert einzuschätzen, bekomme ich nicht mehr Leistungen nach SGB XII Kapitel 3 sondern nach SGB XII Kapitel 4. Der Unterschied ist für mich vor allem, dass bei Kapitel 3 die Eltern für mich unterhaltspflichtig sind (unabhängig davon, wie alt ich bin), und bei Kapitel 4 keine Unterhaltspflicht besteht. Das Geld ist das gleiche.
Jetzt sind also meine Eltern für mich unterhaltspflichtig. Ich halte das für sozial ungerecht. Ich fände es besser, wenn Eltern für ihr erwachsenes Kind nur bis zu einem bestimmten Alter oder bis zum erreichen einer bestimmten ökonomischen Unabhängigkeit unterhaltspflichtig wären. Wenn ein erwachsenes Kind aber befristet erwerbsunfähig ist, die Befristung länger als 6 Monate dauert, und das erwachsene Kind keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente hat, hat das erwachsene Kind Anspruch auf Leistungen nach SGB XII Kapitel 3. Das ist bei mir der Fall. Und dann sind die Eltern unterhaltspflichtig. Die „Befristung“ kann beliebig oft verlängert werden. So wie bei mir. Ich halte diese Regelung für ungerecht. Ich bin dafür, dass nicht die Eltern sondern der Steuerzahler in dem Fall für den Lebensunterhalt aufkommen sollte.
In meinem speziellen Fall habe ich versucht zu verhindern, dass das Sozialamt bei meinen Eltern eine Einkommensabfrage macht. Vor meinem Umzug habe ich in der Stadt gelebt, in der auch meine Eltern gelebt haben. Dort habe ich mein Anliegen beim Sozialamt mündlich und schriftlich vorgetragen und begründet. Daraufhin hat das Sozialamt von einer Elternabfrage abgesehen.
In der Stadt, in der ich jetzt wohne, ist es mir noch mal um vieles wichtiger, dass das Sozialamt die Elternabfrage nicht macht. Durch eine Einkommensabfrage würden meine Eltern ja erfahren, wo ich jetzt wohne. Und das gilt es tunlichst zu verhindern, um mich vor weiteren gewalttätigen Übergriffen zu schützen.
Ich habe also mein Anliegen mündlich und schriftlich mit Begründung beim Sozialamt vorgetragen, als ich bei der Antragsstellung im September letzten Jahres dazu aufgefordert wurde, Angaben zu meinen Eltern zu machen.
Die für den Unterhalt zuständige Mitarbeiterin hat mir mitgeteilt, dass sie meine Aussage zwar nicht anzweifeln möchte, dass da aber jeder kommen könne und dass ich meine Aussage ja gar nicht belegen könne. Und dass sie die Elternabfrage ein jedem Fall machen müsse. Sie hat vorgeschlagen, dass sie ja versuchen könne, nicht meine Eltern direkt anzuschreiben, sondern die Rentenversicherung oder das Finanzamt kontaktieren könne, um deren Einkommen zu erfahren. Dass es aber ungewiss sei, ob die Rentenversicherung oder das Finanzamt die Einkommen meiner Eltern offen legen würden, vor allem weil ich meine Aussage nicht belegen könne. Als sie mal Luft geholt hat, habe ich ihr mitgeteilt, dass ich zwar (bis dahin) keine Anzeige erstattet habe, durch Klinikunterlagen meine Aussage aber durchaus belegen könne. Daraufhin wollte sie die Klinikunterlagen sehen. Das ist allerdings problematisch, weil darin persönliche Informationen stehen, die beim Sozialamt nichts verloren haben. Und es ist höchst problematisch, dass das Sozialamt mich dazu drängt, diese Unterlagen preis zu geben.
Ich habe mir also Unterstützung geholt. Es gibt da einen Bürgerbeauftragten der Landesregierung, der sich für Bürgeranliegen einsetzt, wenn es einen Konflikt zwischen Bürger und Behörde gibt. Wie bei mir.
Dort habe ich mein Anliegen geschildert. Der Bürgerbeauftragte hat erst nicht verstanden, worum es mir geht und wie er mir helfen könnte. Ich habe es dann noch mal umformuliert. Dann hat er genickt und entschieden, dass seine Mitarbeiter sich für mein Anliegen einsetzen.
Vom dem Zeitpunkt an habe ich nicht mehr mit dem Sozialamt direkt Kontakt gehabt. Der Bürgerbeauftrage (bzw sein Mitarbeiter) haben den ganzen Schriftverkehr mit dem Sozialamt geregelt. Ich habe dem Bürgerbeauftragten meine Klinikberichte, meinen Antrag zur Auskunftssperre (da bekommt man keine schriftliche Bestätigung, aber den ausgefüllten Antrag hatte ich mir vor der Abgabe kopiert) und einige Schriftstücke vom Sozialamt gegeben. Das war im November letzten Jahres.

Ruhe finden

Ich habe mal sortiert, was mir gerade wichtig ist in Hinblick auf meine Zukunftsgestaltung. Und dabei habe ich festgestellt, dass mir in dem Themenfeld aktuell am wichtigsten ist, Ruhe zu finden und Wurzeln zu schlagen.
Und dann habe ich gemerkt, dass das nicht so geht, wie ich es mir wünsche. Ich würde nämlich gern mich an dem Ort verwurzeln, wo ich jetzt bin. Soziale Beziehungen aufbauen. Die Umgebung kennen lernen und mir vertraut machen. Routinen entwickeln. Verpflichtungen eingehen. Projekte unterstützen. Das war der Plan, den ich vor einem Jahr geschmiedet habe. Und innerlich halte ich noch sehr daran fest.
Aber dem Plan steht auch entgegen, dass ich inzwischen eine Bindung eingegangen bin, bei der unklar ist, ob ich die Bindung und die Verwurzlung hier vor Ort zusammen bringen kann.
Das hat mich ziemlich durcheinander gewirbelt. Ich weiß schon seit April, dass diese beiden Dinge vielleicht unvereinbar sind. Aber bisher war ich viel zu sehr mit anderen Themen beschäftigt und habe diese mögliche Unvereinbarkeit innerlich nicht näher angeschaut. Als ich jetzt sortiert habe, was mir gerade in Hinblick auf die Zukunftsgestaltung wichtig ist, ist der innere Konflikt dann aktuell geworden.
Also habe ich eine Runde gehadert.
Und gestern hatte ich dann mit meinem Bindungs-Mensch ein längeres und phasenweise aufwühlendes Gespräch dazu. Also ich wusste vorher auch schon, dass mir die Bindung wichtiger ist als die Verwurzlung hier vor Ort. Aber erst bei dem Gespräch ist mir klar geworden, dass ich zwei Dinge nicht auseinander gehalten habe: nämlich Wurzeln schlagen und Ruhe finden.
Mir ist aufgefallen, dass ich vor dem Gespräch beides gleich gesetzt hatte. Dabei sind es zwei völlig verschiedene Sachen.
Jetzt konzentriere ich mich darauf hier Ruhe zu finden. Und ich vermute, dass ich automatisch Wurzeln schlage. Aber ich habe beschlossen, den Fokus nicht mehr auf das konfliktbehaftete Wurzeln schlagen zu richten, sondern statt dessen auf das konfliktfreie Ruhe finden.
Übrigens ist mein Gutachten der Rentenversicherung vorgestern angekommen. Es wurde im Februar in Auftrag gegeben. Im August war der Arzttermin. Im Oktober wurde es fertig gestellt.
Jetzt kann ich meine bisher nur vorläufig geklärte Situation mit Jobcenter und Sozialamt endlich mal abschließen und bekomme dann hoffentlich auch endlich mal meine Umzugskosten bewilligt.

Auskunftssperre Erfahrungsbericht

Die Auskunftssperre nach § 51Abs. (1) des Bundesmeldegesetzes kann natürlich nur ein Baustein in einem Gesamtpaket von Schutzmaßnahmen sein. Hier schreibe ich jetzt nur über diese eine Sache.

Als ich nach dem Kontaktabbruch zum Täter und dem gesamten Täterumfeld in eine andere Stadt gezogen bin, habe ich bei der Anmeldung des Wohnsitzes nach einer Auskunftssperre gefragt. Das ist im Meldegesetz geregelt. Normalerweise ist es nämlich so, dass Hinz und Kunz zum Meldeamt gehen können und persönliche Daten abfragen können. Das kostet zwar eine gewisse Gebühr, aber sonst gibt es keine weitere Hürde, das einfach zu tun.

Die Mitarbeiterin hat mir mitgeteilt, dass es in der Regel nicht möglich ist, der Melderegisterauskunft zu widersprechen. Das geht nur, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht. Ich habe gesagt, dass das bei mir der Fall ist, und dass ich deshalb umgezogen bin. Sie hat mir gesagt, dass ich dafür einen Termin bei ihrer Chefin brauche, und mir die Telefonnummer gegeben.

Damit bin ich nach Hause gegangen und hatte die feste Absicht, das zu machen, sobald ich mit dem Jobcenter alles geklärt habe und Geld von dort bekomme. Ich bin davon ausgegangen, dass in meinem Täterumfeld niemand so schnell mitbekommt, dass ich umgezogen bin, weil ich den Kontakt schon länger abgebrochen hatte und von der Seite in letzter Zeit auch keine neuen Kontaktversuche unternommen wurden.

Eigentlich dachte ich ja, dass sich das mit dem Jobcenter innerhalb von maximal 2 Wochen klärt. Dann hat es aber doch 2 Monate gedauert. Zähe Monate. Dazu schreibe ich in einem anderen Posting noch mal was.

Jetzt jedenfalls bekomme ich endlich mein Geld und habe die Sache mit der Auskunftssperre mal in Angriff genommen.

Am Donnerstag kurz von Feierabend habe ich die Nummer der Leiterin des Bürgerbüros gewählt und gesagt, dass ich eine Auskunftssperre beantragen will. Sie hatte gerade jemanden im Büro sitzen und hat mich gebeten, gleich am nächsten Morgen noch mal anzurufen. Ich habe dann im Laufe des Freitag Vormittag noch mal angerufen, da hatte sie dann Zeit. Sie hat mich nach meinem Namen und Geburtsdatum gefragt und wollte wissen, ob ich eine Anzeige erstattet habe, ohne dabei nach weiteren Details zu fragen. Ich habe gesagt, dass ich keine Anzeige erstattet habe, aber durch Unterlagen aus der Klinik meinen Fall nachweisen kann. Mehr als das habe ich erstmal nicht gesagt. Daraufhin hat sie eine vorläufige Auskunftssperre eingerichtet, so dass ab dem Moment (außer Behörden) niemand mehr meine Adressdaten abfragen konnte. Wir haben dann einen Termin für den kommenden Montag vereinbart, bei dem ich meinen Personalausweis und meine Unterlagen mitbringen sollte.

Da war ich dann gestern auch und hatte zwei Entlassungsberichte aus der Klinik, in der ich regelmäßig stationäre Therapie mache, dabei. Aus den Berichten gehen Straftaten hervor, die gegen mich verübt wurden. Außerdem hatte ich meine Antragsbestätigung vom Fonds Sexueller Missbrauch dabei. Alles jeweils in Kopie.

Sie hat dann erstmal im Computer nachgesehen und festgestellt, dass ich allein umgezogen bin. Außerdem hat sie mir noch mal bestätigt, dass die vorläufige Auskunftssperre jetzt erstmal noch gilt. Dann wollte sie wissen, worum es bei mir geht und warum ich keine Anzeige erstattet habe. Das habe ich ihr erklärt. Sie hat sich dann die Unterlagen angeschaut und zumindest den einen Klinikbericht auch gelesen. Die Gründe, warum ich nicht angezeigt habe, hat sie akzeptiert. Die mitgebrachten Unterlagen waren für sie nachvollziehbar und ausreichend.

Sie hat mir mitgeteilt:

  • eine Auskunftssperre gilt nur gegenüber Privatpersonen, aber nicht gegenüber Behörden
  • eine Auskunftssperre gilt grundsätzlich allen Privatpersonen gegenüber, ohne Ausnahmen
  • die Auskunftssperre gilt nicht nur am neuen Wohnort sondern auch für die vorherige Wohnadresse
  • sie gilt für 24 Monate und kann vor Ablauf neu beantragt werden
  • sie ist gebührenfrei
  • meine Nachweise in Kopie werden in einem verschlossenen Stahlschrank verwahrt, zu dem nur die Leiterin des Meldeamts und ihre Stellvertretung Zugang haben, keine anderen Mitarbeiter
  • wenn jemand eine Meldeauskunft zu meiner Person anfragt, bekommt er sie nicht – wenn derjenige ein wichtiges Anliegen hat (zB finanzielle Forderungen an mich), werde ich vom Meldeamt aber kontaktiert und es wird nach einer Lösung gesucht
  • ich darf keinen Kontakt in das Umfeld haben, von dem die Gefährdung ausgeht
  • ich darf meine Adresse niemandem mitteilen, der Kontakt in das gefährdende Umfeld hat
  • ich muss meine Telefonnummer ändern und meine Accounts in sozialen Netzwerken löschen

Die letzten drei Punkte hatte ich ohnehin schon vorher gemacht. Im Grunde genommen ist das keine abschließende Aufzählung. Es geht einfach darum, dass ich nichts tue, was mich in Gefahr bringt.

Dann habe ich noch das Antragsformular bekommen, das ich noch ausfüllen und abgeben muss. Das ist aber nur noch eine Formalität, weil ich ja jetzt schon eine vorläufige Auskunftssperre habe und schon entschieden ist, dass ich auch eine endgültige bekomme.

In dem Formular muss ich angeben:

  • Name, Vorname
  • Geburtsdatum und Ort
  • Anschrift
  • Telefonnummer
  • Gründe (Freitextfeld)

Der Antragstext lautet: „Hiermit beantrage ich folgende Auskunftssperren: Auskunftssperre nach § 51 Abs. (1) des Bundesmeldegesetzes vom 01.11.2015. Ein glaubhafter Nachweis über Tatsachen, dass durch Auskunft eine Gefahr für Leben, Gesundheit, persönliche Freiheit oder ähnliche schutzwürdige Belange erwachsen kann, ist beizufügen. Gleichzeitig werden Datenübermittlungssperren nach § 50 (1-3) i. V. m. Abs. 5 und nach § 42 (3) des Bundesmeldegesetzes vom 01.11.2015 im Melderegister eingetragen.“

Das muss ich noch ausfüllen und abgeben, dann wird die endgültige Auskunftssperre erteilt.

Bericht der letzten Monate

Ich habe mich hier in den letzten Monaten mit dem Posten zurück gehalten, weil ich etwas „ausgeheckt“ habe und es erst dann öffentlich machen wollte, wenn ich mit der Umsetzung fertig bin. Seit heute bin ich fertig, also kann ich es jetzt erzählen.
Es hat einige Jahre gedauert, den Kontakt zum Täterumfeld vollständig abzubrechen. Letztes Jahr habe ich diesen Schritt dann endlich zu Ende führen können. Und jetzt habe ich den nächsten sinnvollen Schritt gemacht: ich bin in eine andere Stadt gezogen ohne das im Täterumfeld mitzuteilen und habe eine Auskunftssperre beim Meldeamt. Auskunftssperre bedeutet, dass keine Privatperson mehr meine Adresse abfragen kann. Das können jetzt nur noch Ämter machen.
Damit bin ich endlich in Sicherheit.
Heute habe ich die Auskunftssperre bekommen.
Das ist so ein verdammt wichtiger Schritt.
Ich habe, als ich danach auf dem Weg nach Hause war, daran gedacht, dass es mich in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit, Zeit und Energie gekostet hat, mich in Sicherheit zu bringen. Und dass mir diese Zeit und Energie gefehlt hat um andere Dinge im Leben zu tun, die ich gern getan hätte. Oder genauer gesagt: von denen ich in dem Moment mir zwar nicht gewünscht habe sie zu tun, aber bei denen ich im Nachhinein bedauere, dass ich für sie noch keine Kraft hatte, weil meine Aufmerksamkeit auf andere (unschöne) Dinge gerichtet war.
Und dann habe ich an einen Spruch gedacht, den ich im Film „Wie der Wind sich hebt“ gehört habe: „Wenn der Wind sich hebt, muss man anfangen zu leben“. Mir gefällt die Metapher nicht. Ich finde es schöner mir vorzustellen, dass eine zwar schützende aber auch hinderliche Hülle fallen gelassen werden kann, und dass dadurch mehr Kontakt zum Leben möglich ist.
Die letzten Monate haben mir einiges abverlangt. Und ein paar mal war ich echt verzweifelt. Es hat sich immer noch nicht alles Organisatorische geklärt. Ich gehe davon aus, dass im Laufe des November dann alle Behördengänge, die mit dem Umzug zusammen hängen, erledigt sind.
Ich möchte in einem anderen Posting genauer schreiben, wie ich das alles gemacht habe. Wenn jemand Fragen dazu hat, können sie gern in einem Kommentar gestellt werden. Wenn ihr wollt, kann ich eure Fragen auch beantworten, ohne dass euer Name öffentlich sichtbar ist. Schreibt dann bitte in den Kommentar, dass ihr anonym bleiben wollt. Dann mache ich eure Frage nicht sichtbar, antworte aber trotzdem öffentlich.

Keine Lust!

Jetzt mit dieser neuen Medikation habe ich noch mal ein bisschen reflektiert, wie das in meinem Leben eigentlich mit Durchhängern, Motivationslöchern und Anzeichen depressiver Verstimmungen ist. Und wie ich damit umgehe.
Irgendwie habe ich es in all den Jahren, in denen ich wegen meinem Dachschaden in Behandlung war, nicht ein einziges mal geschafft, die Diagnose „Deperssion“ zu erhalten. „Depressive Verstimmung“ hatte ich schon auf dem Diagnosenzettel. Aber das ist eindeutig etwas anderes.
Manchmal sage ich: ich habe schon so viele Probleme, eine Depression kann ich nicht auch noch gebrauchen. Dann schmunzelt mein Gegenüber.
Ja, ich habe keine Lust, ich finde das Leben an sich und insbesondere mein Leben doof, ich will oft rumhängen statt aktiv sein und Schlaf gehört zu meinen Problemthemen. Aber das macht ja noch keine Depression. Und auch keine depressive Verstimmung.
Ich will mal sammeln, was ich mache, wenn ich in Null-Bock-Stimmung bin:
– Tee trinken. Am besten nur eine Tasse Tee aufbrühen. Bei einer Kanne Tee muss ich weniger Aktivität pro getrunkener Tasse aufbringen. Und der Trick beim Tee-Trinken ist ja nicht, sich Flüssigkeit einzuverleiben oder etwas leckeres im Mund zu haben, sondern aktiv zu sein. Das lässt Zeit verstreichen. Zeit, in der ich etwas tue, was ich gut kann und was sinnvoll ist. Am liebsten laufe ich, während das Teewasser erwärmt wird und während der Tee zieht, in der Wohnung rum und erledige etwas. Auch das erhöht das Aktivitätsniveau.
– Klavier spielen. Dabei geht ratz-fatz eine Stunde rum. Es ist eine Aktivität, bei der ich kaum denke, die ich gut kann, und die nicht nervt.
– Sinnloses Computerspiel spielen und dabei Musik hören.
– Spazieren gehen.
– Rausfinden, ob es gerade ein zu bearbeitendes Thema gibt, das nervt, und an dem Thema arbeiten.
– Aktivitäten für die nahe Zukunft planen, z.B. „heute Abend treffe ich mich mit XY“ oder „in zwei Wochen nehme ich an einem Workshop teil“
– Dinge erledigen, die sowieso getan werden müssen, z.B. abwaschen, Kohlen hoch holen, einkaufen gehen, Wäsche abnehmen, Abrechnungen machen. Das sind Sachen, bei denen es egal ist, ob man sie gern oder ungern tut, also kann man auch die Null-Bock-Stimmung nutzen um diese Dinge gleich weg zu haben. Dann lässt sich die Yeah-Yeah-Stimmung viel effizienter für schöne Aktivitäten nutzen.
– Kaffee trinken oder Zigarette rauchen. Als schöne Insel im wabrigen Bäh-Gefühl.
– Mit anderen Menschen sprechen. Interaktion bringt meistens auf andere Gedanken und verändert das Gefühlsleben.
– Einigeln, Sofa, Decke, Kinderfilm.
Allgemein ist es bei mir meistens so, dass ich der Null-Bock-Stimmung erstmal kurz nachgebe und etwas ruhiges mache (rumsitzen oder so) und dann nach 15-30 Minuten aktiv werde. Bei nachhaltiger Null-Bock-Stimmung wechsele ich Ruhe und Aktivität ab. Aber ganz zentral ist bei mir das Aktivsein. Das macht es möglich, dass diese Stimmung verschwindet. Das Lösen nerviger Problem verbessert meine Stimmung auch.
Z.B. diese Sache mit dem Verehrer hat mich seit zwei Tagen genervt. Seitdem schreibt er mir mehrmals am Tag Mails, wo drin steht, dass er mich wieder sehen will und was er gern mit mir unternehmen will. Vielleicht tue ich ihm ja unrecht, aber ich halte ihn für einen ziemlich einfach gestrickten Mensch, der eine Absage ohne Begründung nicht akzeptiert, und der die Begründung „ich stehe nicht auf Männer“ auch nicht akzeptiert. Deshalb habe ich keinen Ansporn, seinen Bemühungen etwas entgegen zu setzen. Aber ich habe auch keine Lust, weiterhin zu Mondscheinspaziergängen eingeladen zu werden und animierte Emojis mit Kussmund zugeschickt zu bekommen. Dieses ungelöste Problem hat mir die Stimmung ganz schön verhagelt. Jetzt habe ich mich für die Lösung entschieden, einen Email-Filter einzurichten, bei dem seine Mails ignoriert werden. Und schwupps ist meine Stimmung besser.
Zusammenfassung: Probleme lösen wirkt bei mir stimmungsaufhellend, Aktivität macht Stimmungstiefs leichter erträglich.

Kamikaze

In fünf Tagen ist die Entlassung. Heute war die letzte Einzeltherapie, und da hätten wir eigentlich standardmäßig das Abschlussgespräch führen müssen. Aber zur Zeit ist der Selbstverletzungs-Druck einfach so hoch, dass wir keinen klaren Gedanken mehr auf andere Dinge richten konnten, erst Recht nicht ein Klinik-Fazit ziehen oder über einen Ausblick sprechen. Wenn es eh schlecht ist, gibt es nichts zu verlieren. Oder nicht viel. Also haben wir den Therapeut gefragt, ob er sich drauf einlässt statt Abschlussgespräch heute noch mal Brainspotting zu machen. Er hat überlegt. Dann hat er zugestimmt. Also haben wir „Es muss mir schlecht gehen, damit die Welt in Ordnung ist“ bzw. die damit verbundenen Magenschmerzen mit Brainspotting bearbeitet.
Das ist anders als die „klassische“ Traumaexposition. Ja, sowas kann auch darauf hinaus laufen, dass man bei einer Szene mit Traumatisierung landet, aber das muss nicht unbedingt sein. Ich fand es jedenfalls heute gut. Und erstaunlicherweise war ich danach zwar erschöpft und hatte eine Weile Kopfschmerzen, aber ich brauchte keine LMAA-Tropfen und habe auch nicht stundenlang geschlafen.
Bin ja mal gespannt, wie das noch nachwirkt. Erstmal ist der Druck jedenfalls geringer.
Und sonst so? Heute ist Sommer. Ich sitze an meinem „geheimen Ort“ in der Natur. Das ist ganz in der Nähe der Klinik, aber es führt kein Weg dorthin, deshalb ist man da allein. Hier bin ich gern, weil es hier so eine schöne Umgebung ist und kein anderer Mensch vorbei kommt. Hier habe ich im Laufe der letzten drei Monate beobachtet, wie die Bäume erst grün werden und das Grün dann nachdunkelt. Inzwischen ist die Vielfalt des Grüns weniger geworden. Die Eichen und Buchen haben jetzt fast so dunkle Blätter wie die Nadeln der Fichten. Nur die Birken sind noch deutlich heller, aber das bleibt dann ja auch bis zum Herbst so.
Ich denke schon daran, nach der Entlassung eine Radtour zu machen. Es gibt eine Garten-Ausstellung, die man (als versierter Fahrer) von mir zu Hause aus an einem Tag erreichen und besichtigen kann. Zurück fahren muss man dann mit dem Zug, sonst wird es deutlich zu weit. Und in dieser Garten-Ausstellung gibt es wohl auch ein Gebäude, in dem manchmal Kunst gezeigt wird. Da gibt es gerade eine Malerei-Ausstellung, die ich gern sehen möchte. Aber da man diese Ausstellung nicht mehr lange sehen kann, muss ich mich bald nach der Klinik aufs Rad setzen und dorthin fahren. Eigentlich ein guter Anlass, denn ich wollte schon länger mal dort hin, habe es aber noch nie gemacht. Und wenn meine Kondition da gut mitmacht, möchte ich die nächsten Ziele ins Visier nehmen. Es gibt nämlich noch eine Höhle, die ich gern besichtigen möchte. Für die Tour braucht man allerdings drei Tage und deutlich mehr Kondition. Und dann würde ich gern noch eine Radtour fortsetzen, die ich letztes Jahr begonnen habe. Da gibt es dann allerdings nur einen Startpunkt (da, wo ich aufgehört habe) und einen Routenverlauf, aber keinen „richtigen“ Zielort. Oder vielleicht doch, aber mal sehen.
Meinen Therapie-Kram habe ich heute geschafft. Nach der Einzeltherapie habe ich in der Gruppentherapie noch ein Bild vorgestellt, an dem ich lange gearbeitet habe. Damit habe ich alles gemacht, was ich noch in diesem Klinikaufenthalt schaffen wollte. Jetzt brauch ich quasi nur noch essen und schlafen, alles andere sind Begleiterscheinungen. Klavierspielen wäre mal wieder toll. Mal sehen, ob ich mich am Wochenende noch mal ans Harmonium setze. Es gibt hier im Nachbarort nämlich eine Kirche, die offen steht und ein Harmonium hat. (Das ist übrigens ein Instrument, das irgendwo zwischen Klavier und Orgel liegt.) Dort habe ich schon öfters mal drauf gespielt. Allerdings hatte ich zu der Zeit immer mein Fahrrad dabei, mit dem ich mal eben schnell dahin rollen konnte. Inzwischen ist mein Fahrrad (zusammen mit vielen anderen Sachen) schon zu Hause, deshalb müsste ich da jetzt zu Fuß hin laufen.
Hoffentlich bekomme ich bei der Entlassung all mein Gepäck bewegt. Am Ende ist es nämlich immer viel mehr als mir lieb ist, und ich muss damit mit dem ÖPNV nach Hause kommen. Einen großen Teil werde ich wieder per Post schicken. Und was nicht ins Paket passt, muss ich irgendwie transportieren. Das ist jedes mal spannend. Ich denke vorher immer (jetzt auch), dass es ja gar nicht so viel ist. Aber wenn es dann vor mir steht, wird mir jedes mal ganz anders, und ich schaffe es nur mit Mühe.
Jetzt bin ich ganz schön in Plauderlaune. Das ist der totale Gegensatz zur letzten Zeit, wo alles so vom SV-Druck dominiert war.

erschlagen

Heute ist wieder ein Tag nach der Expo. Gestern haben wir in der Expo einen Methode genommen, die wir bisher noch nicht richtig hatten: Brainspotting. Dabei schaut man längere Zeit auf einen Punkt, der vorher ausgewählt wurde. Erstaunlicherweise hat das funktioniert. Wir waren skeptisch, weil wir das schon mal probiert und für schlecht befunden hatten. Der Nachteil dieser Methode ist nämlich, dass das Bewusstsein dabei nicht mit Inhalten beschäftigt ist. Dadurch wird das Ganze recht schnell langweilig (jedenfalls wenn man nicht von irgendwas überflutet wird).

Danach haben wir uns körperlich genau so gefühlt, als hätten wir gerade was schlimmes erlebt. Die Schmerzen halten heute noch an, lassen aber schon etwas nach. Gestern haben wir sehr viel geschlafen oder halbschlafend im Bett gelegen. Heute war Aufstehen und am Tag teilnehmen zwar anstrengend aber möglich. Vor allem die körperlichen Beschwerden haben sich heute noch deutlich bemerkbar gemacht. Aber abgesehen von zwei Stunden Schlaf nach Mittag, waren wir den ganzen Tag normal aktiv.