immer noch ich

Im Laufe des Lebens. Sammeln sich die Widersprüche. Die Brüche. Die prägendenden Erfahrungen. Glatt sieht das Leben der Anderen aus. Rau und voller Kanten mein eigenes. Ich mag die Begegnungen nicht, in denen sich die Glattheit der Anderen an meinen Brüchen und Kanten reibt. Haben andere Menschen ihr Leben glattgeschmirgelt, ihre Kanten abgeschliffen, einen Teil ihres Ichs eingebüßt um nicht anzuecken? Ist das, was ich an anderen Menschen sehe, auch das, was sie an sich selbst sehen?

Meist schwarz und schlicht und immer gleich ist meine Kleidung. Sie ist das Gegenteil meines Lebens. Ich kann sie wählen und gestalten. Sie zeigt meine Sehnsucht nach Unauffälligkeit und Harmonie.

Ich möchte Begegnungen zu Menschen wählen, die ihre Lebensbrüche zeigen. Die Pandemie hat mein Verhalten gegenüber anderen Menschen verändert. Ich habe die Leichtigkeit im Umgang verloren. Das macht es mir schwer, feste Kontakte zu knüpfen. Wieder ein Bruch in meinem Leben.

Unverständnis

„Ich verstehe nicht, warum du so entschieden hast und auch noch an dieser Entscheidung festhalten willst. Ich habe anders entschieden. Es gibt gute Gründe sich so zu entscheiden wie ich. Ich musste hart dafür arbeiten um meine Entscheidung durchsetzen zu können. Wenn du dich auch so entscheidest wie ich, musst du dafür auch Opfer bringen. Du hast zwar gesagt, dass du aus diesem Grund gerade nicht so entschieden hast wie ich, aber ich glaube, du solltest dich trotzdem so wie ich entscheiden. Egal wie, du musst dieses Opfer dafür bringen. Ich kann mir nur einen einzigen Grund vorstellen, warum du anders als ich entschieden hast: weil du dieses Opfer nicht aufbringen willst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zusätzlich noch andere Gründe für deine Entscheidung geben kann. Aus meiner Sicht spricht fast alles dafür genau so zu entscheiden wie ich. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du vielleicht nicht in der Lage bist, dieses Opfer zu bringen, das auch ich gebracht habe. Okay, es gibt die Kritik, dass dieses Opfer groß ist. Aber alle Menschen können es schaffen, das zu bringen. Ich weiß es einfach. Und falls es doch Menschen geben sollte, die das nicht können oder nicht wollen, definiere ich, dass sie nicht relevant sind. Also entscheide dich einfach so wie ich. Deine Entscheidung finde ich schlecht und kann sie nicht akzeptieren. Sie hat zwar keine Auswirkung auf mein eigenes Leben, es könnte mir also theoretisch völlig egal sein, ist es aber nicht. Deine Entscheidung macht dir das Leben viel leichter als meine Entscheidung. Ich möchte mich nicht damit auseinander setzen, dass der harte Weg, den ich gegangen bin, der von mir erwartet wurde, zu dem mir keine Alternativen aufgezeigt wurden, vielleicht nicht der einzige war. Ich habe mir viel Mühe gegeben Argumente zusammen zu tragen, die gegen deine Entscheidung sprechen. Ich habe dafür meine Wahrnehmung und Bewertung der Realität so verformt, dass es mir so erscheint, als ob deine Entscheidung tatsächlich nicht mal ansatzweise eine Überlegung wert sein könnte. Jetzt möchte ich meine eigene Entscheidung nicht dadurch in Frage stellen lassen, dass du dir anmaßt eine andere Entscheidung zu treffen. Ich will, dass du meine Entscheidung nachträglich legitimierst und mein aufgebrachtes Opfer würdigst, indem du auch so entscheidest wie ich. Mich interessiert nicht, ob es außer meiner Perspektive noch andere mögliche Perspektiven auf das Thema gibt. Mich interessiert nicht, ob andere Menschen die selbe Entscheidung wie du getroffen haben und damit zufrieden sind. Mich interessiert auch nicht, warum du dich gegen den Weg entschieden hast, den ich gegangen bin. Und warum du an dieser Entscheidung fest hältet. Und du als individueller Mensch interessierst mich schon mal gleich gar nicht. Bring mein Weltbild nicht durch deine Art zu Leben durcheinander!“

„Vielen Dank für deine Nachricht. Mir war schon bekannt, dass es bestimmte Gründe gibt, die gegen meine Entscheidung sprechen, ich habe sie trotzdem so getroffen.“

Solche Gespräche kosten mich Kraft. Ich brauche die Kraft für andere Sachen. Aber ich brauche auch Informationen. Manche Informationen erhoffe ich mir von Menschen, die mir zwar nicht die benötigten Informationen geben wollen und/oder können, aber mir statt dessen mitteilen, dass ich etwas falsch mache. Das Risiko gehe ich manchmal ein, wenn ich keinen besseren Zugang zu Informationen habe.

Mehrfachdiskriminierung heißt unter anderem: sich ein dickes Fell zulegen müssen, weil es Menschen gibt, die sich anmaßen über einen selbst oder das eigene Leben urteilen zu dürfen. Menschen mit Mehrfachdiskriminierungserfahrung erleben das sehr viel häufiger als Menschen mit wenig Diskriminierungserfahrung.

Der Frust darüber ist vollkommen angemessen.

negieren

Ich bin immer wieder genervt von bestimmten Narrativen und teile das anderen Menschen mit. Da bin ich in einer Gedankenschleife drin, die Narrative an sich kritisch sieht. Auch wenn ich das nicht für jedes einzelne Narrativ inhaltlich hinterfragt habe. Das Negieren von Narrativen führt zu einer Leere in der Kommunikation. Unverständnis. Nachfragen. Erklären. Viel Kommunikation über Nicht-Narrative, die sich leer anfühlt.

Ein Narrativ durch ein anderes ersetzen, können viele Menschen, wenn sie bereit sind sich darauf einzulassen. Ein Narrativ ersatzlos streichen ist für viele Menschen ungewohnt. Was bleibt dann noch? Orientierungslosigkeit?

Ich stoße bei anderen Menschen auf Verständnis, wenn ich Narrative negiere. Stoße ich damit bei mir auf Verständnis? Mag ich mich, wenn ich Narrative an sich in Frage stelle oder verwerfe oder mich gedanklich jenseits von ihnen bewege?

Ich neige nicht zu Depressionen. Ich vermute, dass ich Leere besser aushalte als Menschen, die eine Depression haben oder hatten.

Ob mein Hamster Narrative hat? Hat mein Hamster Erklärungsansätze für mein Verhalten? Braucht sie das? Sind Narrative vor allem für Spezies sinnvoll, die sozial interagieren?

Das Abbild der Realität im eigenen Bewusstsein abgleichen können mit dem Abbild der Realität im Bewusstsein anderer Menschen. Dafür sind Narrative ein gängiges Mittel. Aber was wäre, wenn ich in einem Kontext aufgewachsen wäre, in dem es 100 Ausdrücke für etwas gibt, das ich „grün“ nenne? Meine Narrative wären mit Sicherheit andere, weil meine durch soziale Erfahrungen geprägte Sicht auf die Realität eine andere wäre.

Mag ich mich? Mag ich mich, obwohl ich dazu neige, Narrative zu negieren? Mag ich mich, obwohl ich dazu neige, Narrative zu negieren und damit bei anderen Menschen anzuecken? Mag mein Hamster mich? Können Hamster Zuneigung empfinden?

funktioniert

CN Gewalt, Angst, Verstümmelung

Manchmal nehme ich Überreste der Gewalt in meiner Kindheit sehr deutlich wahr. So wie die Manipulation, die sehr gut funktioniert hat. Um ihre Gewalt zu verschleiern, haben meine Eltern mich manipuliert. Sie haben mir Angst gemacht. Sie haben mir das Gefühl gegeben, etwas falsch gemacht zu haben. Nichts konkretes, sondern etwas diffuses. Ungreifbar. Unbenennbar. Es könnte alles sein. Das habe ich nicht verstanden. Und weil mein Bewusstsein keine Erklärung dafür hatte, hat es intensiv nach meinem Fehler gesucht. Da ich ihn nicht gefunden habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich noch genauer suchen muss. Oder dass mein Fehler vielleicht in der Zukunft liegen wird. Und dass ich deshalb auch mein zukünftiges Verhalten kontrollieren muss um den Fehler zu vermeiden.

Mit dieser Manipulation haben sie in mir ein System aus Angst, Verhaltenskontrolle, sozialem Rückzug und anderem Vermeidungsverhalten aufgebaut. Dieses System hat sich bis zu einem gewissen Grad selbst aufrecht erhalten.

Manchmal kommt es wieder hoch. Vor allem, wenn ich überfordert bin. Zur Zeit ist es auch wieder da. Ich komme innerlich nicht zur Ruhe, weil ich nach meinem Fehler suche. Was könnte ich falsch gemacht haben? Oder was könnte ich in Zukunft noch falsch machen?

Werde ich mir eines Tages mit der Stichsäge einen Finger absägen? War es ein Fehler, der einen Person nie gesagt zu haben, dass ich in sie verliebt war? Werde ich es bereuen Kinder bekommen zu haben? Lade ich mir zu viel Stress auf und bin letztlich selbst Schuld daran von dem Stress überfordert zu sein? Erhöhe ich durch mein Verhalten das Risiko eines Psychiatrieaufenthalts? Provoziere ich das Ende einer zwischenmenschlichen Beziehung, die mir sehr viel Halt gibt? Wird die Stichsäge verkleben, weil ich damit Holz gesägt habe, das mit Leinölfirniß behandelt war? Werde ich es jemals schaffen eine Balance zwischen Aktivität und Ruhe zu finden? Konsumiere ich zu viel Kaffee für meinen Körper? Habe ich meine Fruktoseintoleranz durch zu viel Zuckerkonsum verstärkt? War es ein Fehler mich auf meine Gefühle einzulassen? Werde ich morgen Ärger bekommen, weil ich trotz Erkältung einen Termin wahrnehmen möchte? Hätte ich mich mehr bemühen sollen um einen entspannteren Job zu finden?

Aufmerksamkeitsumfokusierung. Selfcare. Anerkennen, dass die Ängste Folge der vergangenen Manipulation sind.

drin

Hilflosigkeit zu erleben triggert mich immer noch. Jetzt ist das Erlebnis schon 2 Tage her und das Rad der PTBS dreht sich immer noch völlig unkontrolliert.

Ich würde gern geschriehen haben. Und traurig gewesen sein. Geschlagen haben. Sichtbarkeit geschaffen haben. Habe ich aber nicht, weil es nicht ging.

Jetzt, nach all den Jahren, schreie ich, bin traurig, schlage, schaffe Sichtbarkeit. Und werde trotzdem von Hilflosigkeitserleben so stark getriggert, dass ich 2 Tage später immer noch nicht weiß, wann die Symptomatik abflachen wird.

mehr Struktur

Im Schrank ist es kühler als im Raum. Während ich die Töpfe einräume, halte ich meinen Arm extra lang hinein. Mein Gehirn macht bei Temperaturen über 30°C seltsame Sachen. Wenn ich etwas kühles trinke, fängt mein Gehirn gleich an, klarer und strukturierter zu denken.

Ich versuche mich zu konzentrieren. Versuche, einen Gedanken zu reproduzieren, den ich aus Büchern und Vorträgen kenne. Ich weiß, es ist ein wichtiger Gedanke. Und es ist wichtig dass ich ihn greifbar mache. Jetzt. Damit arbeiten ist wichtig. Aber er entwischt mir.

Etwas kühles trinken. Das Fenster schließen um die Verkehrsgeräusche auszusperren.

Wie war das noch mal? Sichtbarkeit ist ambivalent, weil stärkere Sichtbarkeit manchmal zu geringer werdender Sicherheit führt. Mehr Sichtbarkeit, weniger Sicherheit. Aber ist das auch in dem Kontext, um den es gerade geht so? Teilweise, weil die selben Mechanismen in dem Kontext auch aktiv sind. Sich das bewusst machen ist wichtig um die Mechanismen zu reduzieren. Damit es weniger Ambivalenz zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit für bestimmte Menschen gibt. Und die Sichtbarkeit ist wichtig, um einen Ausstieg aus dem Marginalisierungsteufelskreis möglich zu machen.

Jetzt habe ich den Gedanken wieder beisammen.

ein Wir

Für den Nachmittag sind wieder Temperaturen von fast 40°C vorhergesagt. Also gehe ich gleich morgens einen kleine Runde durch den Park, um mich anschließend in der vergleichsweise kühlen Wohnung zu verbarrikadieren.

Eine ältere Person, die mit Hund unterwegs ist, spricht mich an und wir unterhalten uns kurz über die Hitze und unseren Umgang damit. Sie teilt mir mit: „Früher kannten wir sowas nicht.“ Mir ist zwar klar, dass das Klima sich verändert und Hitzewellen jetzt häufiger kommen. Aber ich bin mir nicht sicher, wie ihr „wir“ gemeint ist. Ich habe den Eindruck, sie schließt mich in dieses „wir“ mit ein und erhofft von mir, dass ich ihr zustimme, dass „wir“ solche Hitze früher nicht kannten. Da ich die fremde Person nett finde, ich selbst auch eine Zeit meines Lebens als „früher“ bezeichnen würde und der Meinung bin, dass es da noch nicht so oft so heiß war, stimme ich ihr zu.

Aber war ihr „wir“ auch so gemeint? Und basiert dieses „wir“ auf einer Unterscheidung zwischen einem „wir“ und einem „ihr“? Nach welchem Kriterium werden in dem Fall Menschen in zwei Gruppen eingeteilt? Spontan fällt mir die Kategorie Alter ein. Hat die Person mich als „alt genug“ eingelesen um mit mir gemeinsam auf eine so lange Lebensspanne zurück blicken zu können, die wir beide als ein „früher“ erleben? Diese Annahme erscheint mir in der Situation plausibel. Und ich bin stolz, dass ich von einer älteren Person als Teil ihres altersspezifischen „wir“ eingelesen werde. Meistens werde ich von anderen Menschen deutlich jünger geschätzt, als ich tatsächlich bin. Damit habe ich viel Routine, fühle mich dabei aber oft nicht ernst genommen, weil mir gleichzeitig Kompetenzen, Lebenserfahrung und Reife abgesprochen werden, die ich bei mir selbst jeden Tag sehe und erlebe.

Ist mein Wunsch altersgemäß ernst genommen und respektiert zu werden so groß, dass ich auf das „wir“ einer fremden Person projiziere, dass sie mich in eine gehobene Altersgruppe inkludiert?

unrealisiert

Es war ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer Schritt für mich. Ich habe auf diesen Schritt hingearbeitet. Ich habe gehofft, dass er gegangen wird. Aber ich hatte es nicht in der Hand. Deshalb habe ich mir auch nicht erlaubt daran zu glauben, dass er gegangen werden wird.

Gestern wurde er gegangen. Ein Schriftstück. Ein Stempel. Eine Unterschrift. In den nächsten Wochen werde ich das Schriftstück per Post bekommen.

Dieses Schriftstück ist für mich die Eintrittskarte in noch mehr Sicherheit. Damit kann ich endlich einen lang ersehnten Antrag stellen. Und wenn der bewilligt wird, habe ich endlich die für mich persönlich maximal erreichbare Sicherheitsstufe. Endlich. Nach so vielen Jahren. Nach so vielen einzelnen Schritten. Und nach so viel Warten. Nach so viel Ungewissheit.

Ich habe mich noch nicht gekniffen. Und ich habe noch nicht ganz realisiert, dass es jetzt wirklich soweit ist. Ich möchte geduldig mit mir selbst sein und mir zugestehen, dass ich nach so langer Zeit des Wartens, des Bangens und der Anspannung nicht einfach einen Schalter umlegen kann.

teilverklärt

Die Petersilie vor dem Fenster ist so groß geworden, dass ich beschließe einen Teil davon einzufrieren. Die Petersilienstiele trockne ich für den Hamster. Die Blätter schneide ich klein und stecke sie in den Gefrierbeutel, in dem noch der Rest der Petersilie von letztem Jahr ist.

Meine Oma hat Petersilie immer mit einem Wiegemesser zerkleinert. Mein Minimalismus und ich finden Wiegemesser überflüssig. Deshalb drücke ich die Petersilie mit den Fingern fest zusammen und schneide mit dem Messer Scheiben von der komprimierten Petersilie ab. Immer, wenn ich Petersilie schneide, muss ich an meine Oma denken. An ihre späte Gelassenheit. An ihren fleißig gehegten Garten. An ihre Petersilienkartoffeln und ihr Lachen.

Loyalität. Traurigkeit. Innere Zerrissenheit.

Ich bin froh, dass ich jetzt traurig über die Vergangenheit sein kann. Traurig über die Gegenwart. Traurig über die vermutete Zukunft. Endlich bin ich traurig.

Bald ist das Basilikum auch soweit, dass ich einen Teil davon ernten muss. Woran werde ich dabei denken und traurig sein?

erinnert worden

Und wie ich dich hasse!

Das steht gar nicht zur Debatte

Trotzdem bin ich traurig

Traurig über das Nichtgewesene

Über das Verlorene

Über das Gestohlene

Über die Schwere

Über die Langwierigkeit

Über das Kämpfenmüssen

Über die Unabgeschlossenheit

Viel Traurigkeit

Zu viel für einen Moment?

Wer legt das denn fest?

Und was sind die Kriterien dafür?