Am See

Es ist warm und ich sitze draußen. Am Wochenende war ich zu Hause, das war wie Urlaub. Zu Hause ist die Welt ganz anders als in der Klinik. Andere Orte, andere Menschen, andere Abläufe, anderes Essen, andere Notwendigkeiten.

Wenn ich eine Weile nicht zu Hause war, merke ich immer, wie sehr es in der Stadt stinkt. Vor allem der gut abgelagerte warme Hundekot macht sich viel stärker bemerkbar, wenn man ihn eine Weile nicht mehr gerochen hat.

Ich will, dass es mir gut geht. Das ist ganz schlicht und ganz egoistisch.

Wir gehen davon aus, dass wir in diesem Klinikaufenthalt Phase 2 der Traumatherapie abschließen werden. Das bedeutet, dass wir bald von der Traumabearbeitung weg gehen und uns „normalen“ psychotherapeutischen Themen zuwenden werden. Um die Bearbeitung machen zu können, mussten wir einen Deal aushandeln. Sinn des Deals war, dass wir mehr oder weniger an einem Strang ziehen bei der Bearbeitung; zumindest, dass es keine grundlegenden Boykotts gibt. Das hat bisher geklappt. Ein Teil des Deals war, dass wir danach wieder stärker auf die Belange Rücksicht nehmen, die für Phase 2 in den Hintergrund treten mussten. Und dass wir uns danach damit beschäftigen, wie es bei uns weiter gehen wird – so ganz allgemein im Leben. Es wird sich also viel ändern. Das macht Chaos. Wir brauchen eine Konferenz um darüber zu sprechen.

Aber eines ist mir klar: ich will, dass es mir gut geht. Dieses Anliegen möchte ich dabei unbedingt einbringen. Vor allem will ich, dass es selbstverständlicher wird.

Heute gab es eine Situation, wo ich wütend darauf war, dass ein Mensch, der mir gegenüber schlimme Sachen gemacht hat, in einem sozialen Netzwerk durchweg gute Bewertungen und positives Feedback hat. Ich will auf der einen Seite, dass es ihm schlecht geht. Und ich will auf der anderen Seite, dass es mir gut geht. Nachdem ich die Wut zum Ausdruck gebracht hatte, ist mir das klar geworden.

Ich wünsche mir, dass ich einen Automatismus entwickle, bei dem ich die Wut erst ausdrücke und anschließend mir etwas Schönes gönne. Davon erhoffe ich mir, den Automatismus zu durchbrechen, bei dem wir die Wut auf uns selbst richten. Das steht nämlich im krassen Widerspruch dazu, dass ich will, dass es mir gut geht. Gedankenschleifen und unausgedrückte Wut dürfen der Vergangenheit angehören.

(geschrieben am Montag)

gewagt

Das Problem mit dem Wagnis habe ich jetzt so gelöst, dass ich es nicht heimlich eingehe. Gestern habe ich mit meinem Therapeut darüber gesprochen. Ich hatte die Klinikregeln bis dahin so verstanden, dass ich die Sache, die ich schon gemacht habe und auch gern fortsetzen will, nicht machen darf. Im Zweifelsfall kann ich dafür aus der Therapie fliegen – so hatte ich das bisher verstanden. Deshalb war ich im Konflikt, weil ich es eigentlich gern machen möchte, aber auch den Therapieplatz behalten möchte und gleichzeitig den Therapeut nicht belügen möchte.

Gestern habe ich mit meinem Therapeut darüber geredet, und er hat mir gesagt, dass die Regel gar nicht so weit gefasst ist, wie ich sie verstanden hatte. Ich bewege mich also in einem durchaus erlaubten Bereich. Das hat mich erleichtert.

Indem ich mit dem Therapeut drüber geredet habe, habe ich mir mein Bedürfnis nach Ehrlichkeit, Offenheit und Loyalität erfüllt.

Jetzt werde ich mal sehen, wie das Wagnis weiter geht.

Außerdem bin ich gestern mutig beim Zahnarzt gewesen. Aber darüber schreibe ich später was.

Wackelpudding

Am Donnerstag haben wir in der Einzeltherapie mit der Traumaexposition angefangen. Das kenne ich ja schon. Vorbeugend habe ich mir als Bedarfsmedikation ein leichtes Beruhigungsmittel verschreiben lassen. Außerdem habe ich am Abend vorher Nudeln mit wenig Beilage und Knäckebrot mit wenig Aufstrich gegessen, um den Kohlenhydratspeicher möglichst voll zu bekommen. Dadurch bin ich hinterher körperlich nicht ganz so angeschlagen, denn eine Expo verbraucht enorm viel Energie. Ich habe mal was von 3000-4000 kcal gehört, aber dieser Wert ist so enorm hoch, dass ich es nicht glaube.

Unmittelbar nach der Expo war ich gut orientiert und auch erstaunlich fit. Dann habe ich mir Kaffee gekocht (und bis zum Abend kalt stehen gelassen) und es mir halbsitzend auf dem Bett gemütlich gemacht. Da habe ich schon gemerkt, dass die Kraft schlagartig nachlässt und die Nachbearbeitung einsetzt. Also bin ich schon 30 min nach der Expo zur Schwester gegangen, habe mir mein Medikament verabreichen lassen, und habe mich direkt in die Waagerechte begeben. Dann habe ich drei Stunden mit unruhigem Halbschlaf verbracht. Dabei war ich extrem geräuschempfindlich. Ich habe zwar Ohropax benutzt und mir ein Kissen über den Kopf gezogen, aber trotzdem waren die Klinikgeräusche immer noch gefühlt zu laut. In der Zeit gab es sehr viele und vielfältige unwillkürliche Assoziationen im Kopf. Sie haben sich zum Teil um Inhalte aus der Expo gedreht, kamen aber vor allem aus ganz vielen anderen Themenbereichen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was da abgelaufen ist. Aber es war sehr sehr konfus. Danach bin ich aufgestanden und habe Mittag gegessen. Anschließend habe ich mich wieder hin gelegt und noch mal vier Stunden geschlafen, diesmal aber tief und traumlos. Danach bin ich aufgestanden, habe meinen enormen Hunger gestillt und bin den Rest des Tages wach geblieben. In der Zeit hatte ich ein empfindliches Gehirn, als wäre da Götterspeise drin, Sausen im Kopf und ein bisschen Kopfschmerzen. Die nächste Nacht war von sehr leichtem Schlaf mit vielen Träumen (aber ohne Alpträume) und sehr häufigem Aufwachen geprägt. Am nächsten Tag war ich auch noch erschöpft, konnte den Therapien nicht folgen (bzw bin gar nicht erst hin gegangen), hatte noch Probleme mit dem Kopf und viel Hunger. Heute (also zwei Tage nach der Expo) bin ich schon wieder fit. Allerdings habe ich heute einen Ausflug mit Stadtführung gemacht. Dabei habe ich gemerkt, dass ich noch nicht gut nach oben schauen kann, weil das noch zu viel auslöst (ja, wir haben mit einer visuellen Expo-Methode gearbeitet, und das obere Gesichtsfeld hat dabei eine zentrale Rolle gespielt).

Insgesamt war diese Expo also von den Nebenwirkungen her harmlos. Das finde ich gut.

Ich glaube, es war eine gut vorbereitete Expo. Mir ist das schon mehrfach aufgefallen, dass die Vorbereitung das A und O ist.

Inhaltlich war es auch spannend. Wir haben mit einer Szene angefangen, die ich unbedingt machen wollte, weil darin etwas vorkommt, das meinen Alltag stark einschränkt. Allerdings war mir schon vorher klar, dass in der Szene (nicht mehr) viel Druck drin steckt. Das habe ich dem Therapeut auch gesagt, aber wir haben sie trotzdem gemacht. Unmittelbar vor der Expo habe ich erzählt, was ich von der Szene erinnere, und das war sehr viel. Auch dass ich fast flüssig darüber reden konnte, hat dafür gesprochen, dass sich die Szene nicht wirklich „lohnt“, weil es da kaum noch was zu bearbeiten gibt. Als wir dann angefangen haben, erschien mir die Szene weit weg und ich bin nicht richtig rein gekommen. Das allerdings hat dann andere Assoziationen angestoßen. Und daran haben wir uns orientiert. Dadurch sind wir durch mehrere Szenen gewandert, die auch in verschiedenen Altersstufen erlebt wurden. Das war überraschend. Sowas habe ich noch nicht gemacht. Aber es lief gut. Als ich Götterspeise im Gehirn hatte, haben wir aufgehört. Dann hat mein Therapeut eine Sache benannt, die mir vor der Expo an der ursprünglich anvisierten Szene nicht bewusst gewesen ist, und beschlossen, das wir daran noch weiter arbeiten werden. Damit bin ich einverstanden. Wir haben also einen Plan.

Aber jetzt ist erstmal Wochenende. Und ich bin froh, dass ich in der Lage bin, trotz Expo einen Ausflug zu machen. Morgen will ich Muffins backen. Das klappt hoffentlich auch. Ich bin es nämlich langsam Leid, dass diese Expos das ganze Leben auf den Kopf stellen können. Hoffentlich sind die Zeiten vorbei, wo Expos Suizidgedanken verursachen oder einen Monat lang jeden Tag mehrere Stunden Panik. Sowas braucht kein Mensch.

Bailando

Ein Leben ohne Salsa ist zwar möglich, aber nicht so schön, habe ich festgestellt. In der Klinik wird nicht Salsa getanzt. Musik hören geht, aber das ist ja nicht das Gleiche.

Ich bin frustriert und will keinen sehen und nichts machen. Bier wäre auch toll, aber das ist verboten.

Heute war ein anstrengender Tag. Ich kann nicht so lange arbeiten, wie ich das heute gemacht habe. Im Prinzip ist mir das klar, aber dienstags gibt es halt in der Ergotherapie die meiste Arbeitszeit, und das habe ich voll ausgenutzt um an einem Projekt zu arbeiten.

Mich beschäftigt, dass ich nicht weiß, welche Konsequenzen das haben wird, dass ich am Wochenende Kontakt zu meiner Herkunftsfamilie aufgenommen habe. In den letzten Jahren hatte ich in die Richtung keinen Kontakt mehr, weil das anstrengend und gefährlich für mich ist oder war. Ungefährlich wird der Kontakt erst, wenn ein Todesfall eintritt, aber der ist nicht in Aussicht.

Um in der Therapie gut arbeiten zu können, war es sinnvoll, den Kontakt abzubrechen. Das war auch einer der beiden Gründe, warum ich das damals gemacht habe. Der andere Grund war, dass der Kontakt bei mir jedes mal alte Probleme aufgewühlt hat, was anstrengend war. Eigentlich hatte ich nur noch Kontakt zu meiner einen Schwester. Wir haben uns immer gut verstanden. Deshalb hatte ich bei ihr auch lange gezögert mit dem Kontaktabbruch. Irgendwann habe ich es dann „einfach“ mal gemacht. Seitdem grüßen wir uns nur noch kurz, wenn wir uns sehen, und gehen dann weiter. Das ist schwierig, weil sie im Gegensatz zu den anderen Menschen aus meiner Herkunftsfamilie in ähnlichen sozialen Kreisen unterwegs ist. Viele Menschen wissen gar nicht, dass wir Geschwister sind, obwohl sie uns beide kennen.

Ich bin immer traurig, wenn ich sie sehe, weil es schwer ist, keinen Kontakt zu ihr zu haben.

Ihr Freund hat mir auch schon mehrfach erzählt, dass es für sie auch schlimm ist, dass wir keinen Kontakt haben, und wie wichtig es ihr war, dass ich sie vor einigen Jahren in einer schwierigen Lebenslage sehr unterstützt habe.

Als ich sie und ihren Freund am Samstag auf einer Party getroffen habe, hat er das noch mal zu mir gesagt, wie doof er es findet, dass er uns nicht gleichzeitig treffen kann, obwohl er uns beide mag, und wie sehr meine Schwester unter der Situation leidet. Ich habe ihm auch noch mal gesagt, dass es mir auch total schwer fällt, sie auf Abstand zu halten. Und einige Zeit später habe ich mir dann ein Herz gefasst und meine Schwester angesprochen.

Ich habe ihr gesagt, dass ich jedes mal zehn Minuten traurig bin, wenn ich sie sehe, dass ich dann denke, ich sollte ihr mal einen Brief schreiben, und dann ist es wieder vergessen – bis zur nächsten Begegnung. Sie hat geantwortet, dass es ihr genauso geht. Sie war sehr wortkarg. Ich glaube, sie ist traurig und hilflos. Wir sind so verblieben, dass sie mir eine Mail schreiben kann, und ich habe ihr meine Email-Adresse gegeben. Allerdings habe ich sie gebeten, noch eine Woche zu warten (damit ich vorher noch in Ruhe Expo machen kann – das habe ich ihr allerdings nicht gesagt). Ich habe ihr auch gesagt, dass ich jetzt bald mit einer „Phase“ zu Ende komme, ohne näher zu erklären, was für eine Phase es ist. Und dass es für mich nach dieser „Phase“ noch mal eine andere Grundlage als bisher für einen möglichen Umgang mit ihr geben wird. Keine Ahnung, was sie in meine Worte rein interpretiert hat.

Ich wünschte, ich wäre nicht mit ihr verwandt und könnte mit ihr einen entspannten Umgang haben ohne den Familien-Mist.

Tag 1

Jetzt bin ich in der Klinik. Es ist schon witzig diese Vertrautheit des Weges in die Klinik, der Klinik-Stadt und der Klinik selbst wahr zu nehmen. In dem Zimmer, wo ich jetzt untergebracht bin, war ich schon mal in einem vorherigen Aufenthalt. Heute war die Patientenaufnahme geschlossen, also musste ich zum Check-In in ein anderes Büro. Und eine Krankenschwester hat ihre Frisur verändert. Ansonsten ist hier alles wie eh und je. Der Chefarzt will Visite machen, die Krankenschwester findet das sinnlos, weil alle Patienten neu aufgenommen wurden, also sucht sie den Therapeuten, damit er dem Chefarzt sagt, dass er keine Visite machen soll. So oder so ähnlich läuft das hier immer.

Drei andere Patientinnen kenne ich schon, von denen habe ich eine schon gesehen, die anderen noch nicht. Leider hatte ich mit der einen Patientin in einem vorherigen Aufenthalt schon mal einen Konflikt, der sich nicht lösen ließ. Wir sind dann in Unfrieden auseinander gegangen, in der Hoffnung, dass wir uns nicht noch mal begegnen. Mal sehen, wie das diesmal wird. Wir haben schon beschlossen, ihr möglichst aus dem Weg zu gehen und Konfliktfelder zu meiden statt nach Lösungen zu suchen. Wer weiß, wohin diese Strategie führt.

Ich habe ein Pseudo-Einzelzimmer bekommen. Es stehen zwei Betten drin, aber ich bin allein. Das ist schön. Allerdings besteht bei Pseudo-Einzelzimmern immer die Gefahr, dass noch jemand mit rein kommt, wenn die anderen Stationen überlastet sind und Patienten von anderen Stationen vorübergehend auf unserer Station untergebracht werden müssen. Das hatte ich in früheren Klinikaufenthalten auch schon. Meistens war es aber so, dass nur für ein paar Tage jemand mit ins Zimmer kam, und manchmal auch nur tagesklinisch. Von den drei Unterbringungsmöglichkeiten, die es im Krankenhaus gibt, ist mir das die zweitliebste. Mein Favorit ist das Einzelzimmer mit nur einem Bett (die gibt es in der Praxis, obwohl die Klinik alle Zimmer als Zwei- oder Mehrbettzimmer deklariert). Richtig doof wäre es für uns in einem Doppelzimmer zu sein. Pseudo-Einzelzimmer ist also schon ganz gut.

Als nächstes fülle ich den Speiseplan aus, und dann kommt irgendwann der Therapeut zum Aufnahmegespräch und der Arzt zur Aufnahmeuntersuchung und all die Formalien, die ich noch lesen, ausfüllen und unterschreiben muss.

Mal sehen, ob das Internet funktioniert.

nüchtern

Liebes Tagebuch!

Es ist schon so lange offensichtlich. Es fing an einem Tag Ende Juni an. Ich hatte sie eingeladen, mit auf eine Queer-Party zu kommen. Sie druckste rum und sagte weder ja noch nein. Am Tag der Party haben wir Nachrichten hin und her geschrieben und am Ende sind wir beide nicht hingegangen. Ich war unsicher. Am nächsten Tag haben wir wieder Nachrichten geschrieben und um mehr Klarheit zu bekommen, habe ich sie auf einen Kaffee zu mir eingeladen. Sie kam. Das war unsere erste Begegnung in einem privaten Rahmen. Sie war niedergeschlagen und ich erfuhr, dass sie eine Freundin hat und dass sie gern mit ihrer Freundin zusammen wäre, aber die Freundin ist nicht gekommen. Die Beziehung erschien mir verzwickt. Und so ist es auch geblieben. Zu dem Zeitpunkt wusste ich aber noch nicht, dass das ein Dauerzustand war. Eine Weile habe ich mir angeschaut, wie sie mir gegenüber sitzt, erzählt, wie sehr sie ihre Freundin vermisst und mit den Tränen kämpft. Irgendwann wollte ich die Situation verändern, habe gesagt, dass ich mir das nicht länger ansehen will, habe mich neben sie gesetzt und vorsichtig den Arm um sie gelegt. Sie hat sich an mich angeschmiegt und aufgehört zu weinen. Plötzlich war ihre Freundin nicht mehr Thema.

Ich bin prinzipientreu. Eines dieser Prinzipien ist: nicht in bestehende Beziehungen einmischen. So habe ich das da auch gehandhabt. Durch all die Herausforderungen.

An dem Junitag blieb sie stundenlang bei mir. Ich dachte, wenn ich sie auf einen Kaffee eingeladen habe, ist es kulturell bedingt selbstverständlich, dass sie nach spätestens zwei Stunden sagt, dass sie jetzt gehen muss. Mir hat ihre Nähe gefallen, vor allem ihre Anschmiegsamkeit, deshalb habe ich auch keine Bemühungen unternommen, unsere Begegnung zu beenden. Es gab ein starkes Gewitter, also „musste“ sie auch bleiben. Das Gewitter ging vorbei, sie war immernoch da. Irgendwann gab es einen Punkt, wo sie mit ihrem Gesicht immer näher an meins kam, und ich merkte, dass ein Kuss zum Greifen nah lag. Ich bin prinzipientreu, sowas mache ich nicht. Ich habe gesagt: „Ich glaube, du solltest langsam mal gehen.“ Und ohne weiter auf den Kontext einzugehen stimmte sie mir zu und ging.

Es folgten viele ähnlich Begegnungen. Ich habe das sehr genossen. Mir haben vor allem die Berührungen gefallen, die dann zwischen uns auch zur Selbstverständlichkeit wurden. Ich dachte, mich würde das deshalb so reizen, weil es ein Spiel mit dem Feuer war, ein Balanceakt an der Grenze dessen, was ich mir moralisch verbiete.

Ihre Freundin war eifersüchtig. Grund und Indizien gab es auch genug, und nicht mal speziell wegen mir. Ich habe, soweit ich das überblicken kann, am wenigsten Grund für die Eifersucht geliefert. Trotzdem (oder vielleicht deshalb?) hat sie ihrer Freundin in einem Streit gesagt, dass wir uns geküsst haben. Erst Monate später hat sie mir erzählt, dass sie sich dabei total verlogen gefühlt hat. Zu der Zeit aber hat sie zu mir gesagt, ihre falsche Behauptung fände sie nicht schlimm. Mich hat es aber verletzt, dass sie eine Lüge über mich erzählt hat, dass sie die inhaltlich bedeutsame Wahrheit über andere Menschen verschwiegen hat, und vor allem, dass sie von mir erwartet hat, dass ich ihr das verzeihe.

An dem Punkt habe ich unser Miteinander beendet. Sie hat versucht, weiter mit mir in Kontakt zu bleiben, aber ich habe ihr gesagt, dass ich das nicht will. Mehrfach. Sie hat das akzeptiert.

Im November sind wir uns wieder begegnet. Ich wusste schon einen Tag vorher, dass wir uns sehen werden, sie wusste es erst in dem Moment der Begegnung. Irgendwie habe ich mich auf die Begegnung gefreut, weil ich gehofft habe, dass der selbe Reiz der vertrauten aber auch spannungsgeladenen Nähe wieder entstehen würde, weil ich gehofft habe, dass ich ihr endlich mal klar sagen könnte, was mich so verletzt hat, und weil ich heimlich gehofft habe, dass sie sich entschuldigt. Bei der Begegnung wurden alle meine Hoffnungen erfüllt. Außerdem gab es gerade mal wieder eine massive Beziehungskrise zwischen ihrer Freundin und ihr, sie weinte also mal wieder. Diesmal hat sie mir aber den Inhalt der Krise nicht erzählt, das wollte ich auch gar nicht wissen. Wir waren uns an dem Abend wieder sehr nah, aber etwas war anders: ich hatte den Eindruck, sie will nur Trost aber kein romantisches Abenteuer.

Vor und nach dieser Begegnung habe ich mit einer Freundin sehr ausführlich über sie und was mich in dem Zusammenhang bewegt gesprochen. Und mir ist klar geworden: Mich reizt nicht nur das „Spiel mit dem Feuer“, ich habe mich in sie verliebt. Zu dem Zeitpunkt war sie aber noch in einer Beziehung, wenn auch in einer stark zerrütteten, also habe ich mich genauso zurück gehalten wie im Sommer.

Ende Dezember begegneten wir uns wieder. Und auch da wusste ich schon vorher, dass wir uns treffen werden, sie wusste es aber erst direkt in dem Moment. Ich habe mich darauf gefreut, weil ich gehofft habe, die Verliebtheit wieder spüren zu können, auch wenn ich eine gewisse Distanz wahre. An dem Abend hat sie mir gesagt, dass ihre Beziehung jetzt zu Ende ist. Dadurch habe ich mich nicht mehr verpflichtet gesehen, einen moralisch korrekten Mindestabstand zu ihr zu wahren und meine Verliebtheit vor ihr zu vertuschen.

Ich wäre gern in ihrer Nähe, weil das meine Verliebtheit befeuert, weil ich ihre Gegenwart genieße und weil ich hoffe, dass wir durch regelmäßige Begegnungen eine Basis aufbauen können, auf der sich entscheiden lässt, ob das was mit uns wird oder nicht. Also habe ich angefangen ihr Nachrichten zu schreiben. Ich habe sie eingeladen, mit mir am Neujahrstag spazieren zu gehen und unterwegs in einem Café eine Heiße Schokolade zu trinken. Sie hat abgelehnt.

Ich wollte weiter ihre Nähe suchen. Ich habe ihr geschrieben, dass ich mich gern mit ihr treffen würde. Sie hat nicht geantwortet. Zwei Tage später habe ich es noch mal versucht. Wieder keine Antwort.

Führen und Lernen

Zur Zeit besuche ich einen Tanzkurs, bei dem ich Führen lerne. Folgen konnte ich vorher schon so gut, wie ich es können will. Nun also Führen.

Führen ist spannend. Führen bedeutet beim Paartanz: entscheiden, was getanzt werden soll; die zu tanzende Figur können müssen; anzeigen, was der andere Mensch machen soll; den Rhythmus halten; im Zweifelsfall wieder in den Takt kommen; im Zweifelsfall den anderen Mensch wieder in den Takt bringen; Kollisionen mit anderen Tanzpaaren, Wänden oder Gegenständen vermeiden; bei schief gelaufenen Figuren spontan eine andere Auflösung aus dem Hut zaubern; den eigenen Führungsstil während des Tanzes an den Stil des anderen Menschen anpassen und sich allgemein so verhalten, dass der andere Mensch gern mitmacht.

Folgen ist weniger komplex. Da muss man nur den Rhythmus halten und die Signale des anderen Menschen aufnehmen und umsetzen. Das ist jedenfalls meine Meinung zum Folgen. Es gibt natürlich auch Menschen, die das anders sehen.

Ich gehe erst seit einigen Wochen zu dem Kurs und lerne jetzt zum ersten Mal Führen. Mir ist aufgefallen, dass mir das Tanzen dann am besten gefällt, wenn meine Tanzpartnerin ganz weich meinen Bewegungen folgt. Wenn sie weiß, welche Figur wir gerade machen, und sich dann darauf konzentriert die dazu gehörigen Bewegungen umzusetzen, ist ihre Aufmerksamkeit nicht mehr darauf gerichtet, was ich ihr anzeige (oder anzeigen will). Dann fühle ich mich zum Einen um meinen Kompetenzbereich betrogen und komme zum Anderen nur noch mit viel Aufwand in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit. Aber wenn sie einfach nur macht, was ich will und ihr anzeige, läuft es richtig gut.

Führen bedeutet Macht haben und Verantwortung tragen. Mir gefällt diese Rolle beim Tanzen. Mir gefällt auch das Folgen. Im Folgen kann ich, wenn es mit dem anderen Menschen gut läuft, völlig versinken.

Meine Tanzpartnerin will nicht nur das Folgen an sich lernen sondern darüber hinaus auch noch die Bewegungen, die sie bei den einzelnen Figuren machen soll. Das ist emanzipierter als ein reines „du regelst das schon, ich mach nur mit“. Während sie ihre Bewegungen gezielt übt, ist sie auf sich konzentriert und ich bin bei ihr abgemeldet. Dabei kann ich nicht Führen üben, weil sie ohnehin nicht auf meine Führungsimpulse reagiert. Für mich ist es beim Lernen also effizienter (und angenehmer), wenn sie mir unambitioniert einfach nur folgt ohne ihre konkreten Schritte zu üben. Dann könnte ich schnell viel lernen, sie würde aber fast gar nichts lernen.

Patriachat. Manchmal echt verlockend, wenn man in einer Position ist, in der man von seinen Vorzügen profitieren kann.

Unsere „Lösung“ als Tanzpaar liegt zur Zeit darin, dass wir uns gegenseitig Feedback über unsere Bewegungen und Interaktionen geben. Im Zweifelsfall besinnen wir uns darauf, dass wir ja beide nicht so genau wissen, wie es geht. Und dann fragen wir einen der Tanzlehrer oder schauen uns Videos zu den Figuren an.

Für mich ist es eine echte Herausforderung auszubalancieren zwischen „ich habe hier die Hosen an“ und „wir machen das gemeinsam“. Ich vermute, dass beim Lernen für beides Platz sein muss. Letztlich läuft es aber darauf hinaus, dass ich die Hosen an habe.

Hart schlafen

Vor etwa zwei Wochen habe ich davon gehört, dass manche Menschen (im „zivilisierten Westen“) ihr Nachtlager nicht auf einem Bett mit Matratze sondern auf dem Boden haben und nur eine Decke oder dünne Matte zur Isolation und leichten Polsterung unter sich haben. Angeblich soll das gut für den Körper sein.

Ich dachte mir: was für eine verrückte Sache, das probiere ich auch mal aus. Seitdem schlafe ich auf dem Boden und bin damit sehr zufrieden. Die chronischen Rückenschmerzen und Verspannungen sind seitdem deutlich zurück gegangen. Und ich kann besser einschlafen und habe wesentlich weniger Symptome im Zusammenhang mit dem Schlaf.

Woran das wohl liegt? „Bett“ ist für mich ein Trigger. Ich habe schon öfter darüber nachgedacht, wie sich die Schlafsituation verändern lässt, um dem Körpergefühl zu entgehen, das beim Liegen auf einer Matratze entsteht. Als Kind habe ich auch schon mal eine Weile auf einer Isomatte geschlafen und fand es gut. Das wurde mir allerdings verboten und so bin ich damals wieder ins Bett umgezogen.

Für die psychische Verfassung ist das harte Schlafen bei mir gut. Und dass es meinem Rücken besser geht, führe ich darauf zurück, dass ich einfach (psychisch und körperlich) entspannter schlafen kann, weil der Trigger weg fällt.

Ein Monat alkoholfrei

Mein Alkoholkonsum hatte mir mal Sorgen gemacht, vor allem weil wir gern mal zu einem Getränk greifen, wenn wir Probleme vergessen wollen. Es war also mehr der Grund als die Menge, die mir Sorgen bereitet hat. Als mir dann ein Bekannter erzählt hat, dass er wegen deutlich zu viel Alkohol im Straßenverkehr zum Idiotentest musste und deshalb 7 Monate keinen Tropfen Alkohol angerührt hat, um leichter durch den Idiotentest zu kommen, fand ich den Gedanken spannend, bewusst eine zeitlang keinen Alkohol zu trinken um zu testen, wie es uns damit geht. Gesagt, getan. Im Mai habe ich also absichtlich keinen Alkohol angerührt. Und um die Herausforderung noch ein bisschen zu erhöhen, hatte ich trotzdem Wein und am Ende auch Bier im Haus. Und ich bin regelmäßig abends weg gegangen und habe mich in Situationen begeben, in denen wir normalerweise Alkohol trinken.

In und nach diesem Selbsttest habe ich festgestellt:

  • Wir brauchen abends ein Getränk, auf das wir uns freuen. Dabei ist völlig egal, ob das ein Tee, eine Cola oder ein Bier ist.
  • Von allen alkoholfreien Bieren schmeckt mir Becks Blue am besten.
  • Mit einem guten alkoholfreien Bier können wir genauso zufrieden sein wie mit einem alkoholhaltigen.
  • Gerüchte besagen, dass Alkohol müde macht. Das kann ich nicht bestätigen. Ich kann auf Partys mit und ohne Alkohol lange durchhalten.
  • Auch ohne Alkohol kann ich eine Nacht bis in den nächsten Tag hinein durch feiern.
  • Manche innen sind neidisch, wenn andere Menschen Alkohol trinken und sie selbst nicht.
  • Ja, Alkohol senkt die Hemmschwelle und erschwert die Artikulation. Das ist eine klassische Aussage über Alkohol, die mir in dem Test deutlich aufgefallen ist.
  • Wenn ich selbst nichts trinke, rieche ich die Alkoholfahne der anderen Menschen viel schneller.
  • Wenn man weg geht und nichts trinkt, kommt das Gespräch mit anderen Menschen viel öfter auf Alkohol, als wenn man trinkt.
  • Mein alkoholfreier Monat hat mir eine Trinkwette beschert, die gerade läuft.
  • Hetero-Männer sind aufdringlicher, wenn ich getrunken habe.
  • Obwohl ich sonst oft abends Bier trinke, um die innere Anspannung nicht mehr so sehr zu spüren, ging es mir im alkoholfreien Monat nicht schlechter als sonst. Der Alkohol macht es für mich also nicht leichter, mit den Problemen klar zu kommen, auch nicht vorübergehend.

Ich fand das Experiment spannend. Am meisten hat mich die eine Nacht überrascht, die ich bis weit nach Sonnenaufgang durchgefeiert habe. Ich dachte immer, dass ich den Alkohol brauche um nicht so zu spüren, wie anstrengend Partys sind. Ich hatte nicht geplant die Nacht durch zu machen, es hat sich einfach gegen fünf Uhr ergeben, dass ich mit einer Freundin beschlossen habe nicht mehr schlafen zu gehen. Ich mache nur sehr selten mal Nächte durch. Dass ich irgendwann zwischen 3 und 6 Uhr morgens schlafen gehe, kommt öfters vor, aber vor dem Experiment eben immer mit Alkohol. Dass ich das auch ohne Alkohol genauso gut kann, hat mich überrascht und gefreut.

Am Anfang war es schwierig von der Gewohnheit weg zu kommen, abends zu Hause allein Bier zu trinken. Aber es hat sich schon nach wenigen Tagen heraus gestellt, dass wir einfach nur ein Getränk brauchen, auf das wir uns schon vorher freuen. Dann haben wir einen leckeren Tee gekauft, und schon war das Gewohnheitsbier am Abend vergessen.

Eine andere schwierige Situation entstand bei einem Lagerfeuer, das sich auch bis weit in die Nacht hinein zog. Da gab es zu fortgeschrittener Stunde eine Diskussion über Geschlechterrollen, die wir ziemlich ätzend fanden, weil ein Gesprächsteilnehmer da sehr vehement und unsachlich argumentiert hat. Da haben wir dann ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, uns volllaufen zu lassen um von der Situation nicht mehr so viel mit zu bekommen. Da fand ich es schon spannend zu erleben, dass Alkohol als erster Problembewältigungsvorschlag im Kopf aufgetaucht ist. Danach haben wir noch andere Optionen durchgespielt und uns letztlich dafür entschieden, die Situation vorrübergehend zu verlassen.

Ich glaube nicht, dass wir durch das Alkoholfrei-Experiment weniger trinken als vorher. Aber ich bin beruhigt, dass es auch genauso gut ohne geht. Ich würde gern noch weiter experimentieren, ob Hetero-Männer sich wirklich so unterschiedlich verhalten, je nach dem ob ich getrunken habe oder nicht. Da hat sich eine leichte Tendenz abgezeichnet, aber ich bin mir bei dieser Aussage noch nicht sicher.

Innen-Kommunikation

Wir schreiben den Blog ja so, als wäre es das selbstverständlichste der Welt, dass wir Viele sind; als gäbe es da nichts weiter dazu zu kommentieren oder erklären. Das liegt daran, dass wir nicht speziell übers Viele-Sein schreiben wollen, sondern darüber, was wir erleben und was uns beschäftigt in Hinblick auf die Bewältigung der Probleme, die uns durch die komplexe Traumatisierung entstanden sind. Wir sehen das Viele-Sein als einen Teil der Traumafolgen, aber nicht als den wichtigsten.

Im Moment müssen wir gerade eine Entscheidung fällen, die sehr schwer fällt, weil wir Viele sind und weil es innen sehr viele und sehr verschiedene Standpunkte zu der Fragestellung gibt. Die Gelegenheit möchte ich nutzen, um hier mal aufzuschreiben, wie wir unsere interne Kommunikation bei Konflikten strukturieren.

Im aktuellen Fall ist es so, dass ein Außenmensch auf unsere Antwort wartet. Er weiß, dass wir Viele sind, und irgendwie weiß er auch, dass es uns schwer fällt, eine Entscheidung zu fällen. Zunächst haben wir also erstmal den Druck von außen reduziert, indem wir gesagt haben, dass wir das erstmal intern besprechen müssen und dass wir dafür bestimmt eine Woche Zeit brauchen. Der Außenmensch war so nett, sich darauf einzulassen und wartet jetzt ganz brav und ohne Drängeln auf die Antwort. Es hilft uns schon mal enorm, Zeit zu haben, das intern zu besprechen. Und es hilft uns auch, dass eine mehr oder weniger konkrete Zeitspanne zum Fällen der Entscheidung vorhanden ist. Klare Rahmenbedingungen geben uns immer Orientierung, das betrifft auch den Zeitrahmen.

Am Tag nach dem Gespräch mit dem Außenmensch haben wir beschlossen, wie wir die Kommunikation strukturieren wollen und haben uns dabei für eine bewährte Form entschieden. Dann hat es noch mal einen Tag gedauert, bis wir mit der „eigentlichen“ Struktur angefangen haben. Diese scheinbar langen Vorlaufzeiten sind für uns wichtig. Es dauert schließlich eine Weile, bis sich innen rum spricht, was gerade außen los ist. Und außerdem muss sich jeder Einzelne von uns erstmal einen Überblick über die Situation verschaffen und dann raus finden, was er meint, befürchtet, will etc. Natürlich gibt es innen auch eine Menge Leute, die sich aus dem Prozess raus halten. Erfahrungsgemäß ist es aber so, dass eine lange Vorlaufzeit und lange Entscheidungsfindungsphase dazu beiträgt, dass sich das Thema innen immer weiter rum spricht. Dann können bei der strukturierten Kommunikation auch mehr teilnehmen.

Zwei Tage nach dem Gespräch mit dem Außenmensch haben wir dann mit der strukturierten Kommunikation begonnen. Unstrukturiert wurde ja schon vorher kommuniziert.

Wir haben übrigens eine „innere Landschaft“, in der es einen Ort gibt, an dem die „Konferenz“ tagt. Die „Konferenz“ ist ein temporärer und freiwilliger Zusammenschluss aller Innenpersonen, die sich zu einem bestimmten Thema äußern wollen oder dabei sein wollen, wenn die anderen darüber reden. Wir haben also eine Konferenz einberufen und gleichzeitig in der Außenwelt einen gut sichtbaren Zettel aufgehängt und einen Stift daneben gelegt. Auf dem Zettel haben wir die Frage aufgeschrieben, über die wir sprechen müssen. Innen war ein großes Durcheinander. Deshalb war es auch nicht möglich, dass einer nach dem anderen redet, oder gar, dass alle Anwesenden zuhören, wenn einer redet. Das ist aber auch in Ordnung so. Wichtig ist ja, dass trotzdem jeder gehört wird. Und das geht so: ich höre mir das Durcheinander an Äußerungen an. Dabei versuche ich die einzelnen Meinungen raus zu hören (was nicht immer geht). Wenn ich eine Einzelmeinung gefunden habe, formuliere ich in meinen Worten, was derjenige meinen könnte. Wenn derjenige dann nicht protestiert, werte ich das als Zustimmung und notiere seine Meinung auf dem Zettel in der Außenwelt. Meistens sind das Kurzäußerungen wie „lass mich in Ruhe“ oder „wehe, wenn die Welt kaputt geht“. Ausführlichere Äußerungen sind eher selten. Durch das Aufschreiben wird das Durcheinanderreden im Laufe der Zeit weniger. Wer nämlich mitbekommt, dass er gehört wurde und versprochen bekommen hat, dass seine Meinung oder Befürchtung oder Hoffnung oder Wasauchimmer berücksichtigt wird, hört meistens auf, seine Äußerung immer wieder zu wiederholen. Manchen Innenpersonen haben danach noch mehr oder Anderes oder Ausführlicheres zu berichten, das wird dann auch notiert. Und dann gibt es natürlich auch noch Rückmeldungen von Innenpersonen auf die Äußerungen anderer Innenpersonen, die auch notiert werden. Und dann sind da noch die, die in dem Durcheinander nichts sagen, sondern erst mit Reden anfangen, wenn es stiller wird, oder wenn sie direkt angesprochen werden. Im Laufe der Zeit werden die Kurzäußerungen weniger, dafür gibt es mehr Äußerungen, die sich konkret auf den Kontext beziehen oder bestimmte Aspekte beleuchten oder Begründungen beinhalten wie „ich will keine Veränderungen. mir ist das zu anstrengend, mit den Anderen so viel über Veränderungen reden zu müssen. deshalb soll alles so bleiben, wie es ist.“

All das dauert sehr lange. Wir machen das nicht am Stück, sondern über Tage verteilt. Immer wenn innen jemand was zum Thema sagt, wird das aufgeschrieben. Der Zettel hängt jetzt seit gestern in der Wohnung, und wir sind im Moment in der Phase, wo die Äußerungen seltener kommen. Dafür werden sie aber differenzierter und gehen öfter auf schon Geäußertes ein. Wir hatten zwischenzeitlich schon mal eine deutliche Tendenz für die Entscheidung. Das hat auch noch mal die Meinungen verstärkt, die genau diese Richtung nicht einschlagen wollen.

Irgendwann, wenn es innen noch ruhiger geworden ist, werden wir lesen, was auf dem Zettel steht. Das passiert bei uns nämlich erst am Schluss. Durch das Lesen gibt es manchmal noch mehr Äußerungen, die auf das Geschriebene eingehen. Die werden dann auch noch notiert. Wenn wir den Zettel vor versammelter Konferenz lesen können, ohne dass noch mehr Äußerungen kommen, warten wir noch mal ca. eine Stunde ab. Wenn es dann innen immer noch ruhig ist, gehen wir davon aus, dass endlich jeder, der etwas sagen wollte, sich zu dem Thema geäußert hat.

Erst dann fangen wir an, das Ganze zu sortieren. Wir haben nämlich gemerkt, dass es bei uns keinen Sinn hat, die Meinungen zu bewerten, wenn noch gar nicht alles gesagt wurde. Wenn wir nämlich bewerten, fühlen sich innen manche übergangen, sind eingeschnappt und sagen dann gar nichts mehr. Um dem vorzubeugen, warten wir, bis sich alle geäußert haben, die etwas sagen wollen. Dann können wir in der Bewertungsphase nämlich auch die Meinungen derer berücksichtigen, die sich dann nicht mehr zu Wort melden (wollen).

Ja, und irgendwann steht dann eine Entscheidung. Meistens führt das dazu, dass dann diejenigen getröstet werden müssen, die die Entscheidung doof finden. Oft muss für sie dann ein Ausgleich geschaffen werden. Das ist dann meistens sehr emotional.

Zur Zeit befürchte ich, dass wir es im aktuellen Fall nicht schaffen, bis zum Ablauf der Woche alle Innenpersonen zu beruhigen. Es fällt mir schwer, damit umzugehen. Und es macht mich traurig.