Wir schreiben den Blog ja so, als wäre es das selbstverständlichste der Welt, dass wir Viele sind; als gäbe es da nichts weiter dazu zu kommentieren oder erklären. Das liegt daran, dass wir nicht speziell übers Viele-Sein schreiben wollen, sondern darüber, was wir erleben und was uns beschäftigt in Hinblick auf die Bewältigung der Probleme, die uns durch die komplexe Traumatisierung entstanden sind. Wir sehen das Viele-Sein als einen Teil der Traumafolgen, aber nicht als den wichtigsten.
Im Moment müssen wir gerade eine Entscheidung fällen, die sehr schwer fällt, weil wir Viele sind und weil es innen sehr viele und sehr verschiedene Standpunkte zu der Fragestellung gibt. Die Gelegenheit möchte ich nutzen, um hier mal aufzuschreiben, wie wir unsere interne Kommunikation bei Konflikten strukturieren.
Im aktuellen Fall ist es so, dass ein Außenmensch auf unsere Antwort wartet. Er weiß, dass wir Viele sind, und irgendwie weiß er auch, dass es uns schwer fällt, eine Entscheidung zu fällen. Zunächst haben wir also erstmal den Druck von außen reduziert, indem wir gesagt haben, dass wir das erstmal intern besprechen müssen und dass wir dafür bestimmt eine Woche Zeit brauchen. Der Außenmensch war so nett, sich darauf einzulassen und wartet jetzt ganz brav und ohne Drängeln auf die Antwort. Es hilft uns schon mal enorm, Zeit zu haben, das intern zu besprechen. Und es hilft uns auch, dass eine mehr oder weniger konkrete Zeitspanne zum Fällen der Entscheidung vorhanden ist. Klare Rahmenbedingungen geben uns immer Orientierung, das betrifft auch den Zeitrahmen.
Am Tag nach dem Gespräch mit dem Außenmensch haben wir beschlossen, wie wir die Kommunikation strukturieren wollen und haben uns dabei für eine bewährte Form entschieden. Dann hat es noch mal einen Tag gedauert, bis wir mit der „eigentlichen“ Struktur angefangen haben. Diese scheinbar langen Vorlaufzeiten sind für uns wichtig. Es dauert schließlich eine Weile, bis sich innen rum spricht, was gerade außen los ist. Und außerdem muss sich jeder Einzelne von uns erstmal einen Überblick über die Situation verschaffen und dann raus finden, was er meint, befürchtet, will etc. Natürlich gibt es innen auch eine Menge Leute, die sich aus dem Prozess raus halten. Erfahrungsgemäß ist es aber so, dass eine lange Vorlaufzeit und lange Entscheidungsfindungsphase dazu beiträgt, dass sich das Thema innen immer weiter rum spricht. Dann können bei der strukturierten Kommunikation auch mehr teilnehmen.
Zwei Tage nach dem Gespräch mit dem Außenmensch haben wir dann mit der strukturierten Kommunikation begonnen. Unstrukturiert wurde ja schon vorher kommuniziert.
Wir haben übrigens eine „innere Landschaft“, in der es einen Ort gibt, an dem die „Konferenz“ tagt. Die „Konferenz“ ist ein temporärer und freiwilliger Zusammenschluss aller Innenpersonen, die sich zu einem bestimmten Thema äußern wollen oder dabei sein wollen, wenn die anderen darüber reden. Wir haben also eine Konferenz einberufen und gleichzeitig in der Außenwelt einen gut sichtbaren Zettel aufgehängt und einen Stift daneben gelegt. Auf dem Zettel haben wir die Frage aufgeschrieben, über die wir sprechen müssen. Innen war ein großes Durcheinander. Deshalb war es auch nicht möglich, dass einer nach dem anderen redet, oder gar, dass alle Anwesenden zuhören, wenn einer redet. Das ist aber auch in Ordnung so. Wichtig ist ja, dass trotzdem jeder gehört wird. Und das geht so: ich höre mir das Durcheinander an Äußerungen an. Dabei versuche ich die einzelnen Meinungen raus zu hören (was nicht immer geht). Wenn ich eine Einzelmeinung gefunden habe, formuliere ich in meinen Worten, was derjenige meinen könnte. Wenn derjenige dann nicht protestiert, werte ich das als Zustimmung und notiere seine Meinung auf dem Zettel in der Außenwelt. Meistens sind das Kurzäußerungen wie „lass mich in Ruhe“ oder „wehe, wenn die Welt kaputt geht“. Ausführlichere Äußerungen sind eher selten. Durch das Aufschreiben wird das Durcheinanderreden im Laufe der Zeit weniger. Wer nämlich mitbekommt, dass er gehört wurde und versprochen bekommen hat, dass seine Meinung oder Befürchtung oder Hoffnung oder Wasauchimmer berücksichtigt wird, hört meistens auf, seine Äußerung immer wieder zu wiederholen. Manchen Innenpersonen haben danach noch mehr oder Anderes oder Ausführlicheres zu berichten, das wird dann auch notiert. Und dann gibt es natürlich auch noch Rückmeldungen von Innenpersonen auf die Äußerungen anderer Innenpersonen, die auch notiert werden. Und dann sind da noch die, die in dem Durcheinander nichts sagen, sondern erst mit Reden anfangen, wenn es stiller wird, oder wenn sie direkt angesprochen werden. Im Laufe der Zeit werden die Kurzäußerungen weniger, dafür gibt es mehr Äußerungen, die sich konkret auf den Kontext beziehen oder bestimmte Aspekte beleuchten oder Begründungen beinhalten wie „ich will keine Veränderungen. mir ist das zu anstrengend, mit den Anderen so viel über Veränderungen reden zu müssen. deshalb soll alles so bleiben, wie es ist.“
All das dauert sehr lange. Wir machen das nicht am Stück, sondern über Tage verteilt. Immer wenn innen jemand was zum Thema sagt, wird das aufgeschrieben. Der Zettel hängt jetzt seit gestern in der Wohnung, und wir sind im Moment in der Phase, wo die Äußerungen seltener kommen. Dafür werden sie aber differenzierter und gehen öfter auf schon Geäußertes ein. Wir hatten zwischenzeitlich schon mal eine deutliche Tendenz für die Entscheidung. Das hat auch noch mal die Meinungen verstärkt, die genau diese Richtung nicht einschlagen wollen.
Irgendwann, wenn es innen noch ruhiger geworden ist, werden wir lesen, was auf dem Zettel steht. Das passiert bei uns nämlich erst am Schluss. Durch das Lesen gibt es manchmal noch mehr Äußerungen, die auf das Geschriebene eingehen. Die werden dann auch noch notiert. Wenn wir den Zettel vor versammelter Konferenz lesen können, ohne dass noch mehr Äußerungen kommen, warten wir noch mal ca. eine Stunde ab. Wenn es dann innen immer noch ruhig ist, gehen wir davon aus, dass endlich jeder, der etwas sagen wollte, sich zu dem Thema geäußert hat.
Erst dann fangen wir an, das Ganze zu sortieren. Wir haben nämlich gemerkt, dass es bei uns keinen Sinn hat, die Meinungen zu bewerten, wenn noch gar nicht alles gesagt wurde. Wenn wir nämlich bewerten, fühlen sich innen manche übergangen, sind eingeschnappt und sagen dann gar nichts mehr. Um dem vorzubeugen, warten wir, bis sich alle geäußert haben, die etwas sagen wollen. Dann können wir in der Bewertungsphase nämlich auch die Meinungen derer berücksichtigen, die sich dann nicht mehr zu Wort melden (wollen).
Ja, und irgendwann steht dann eine Entscheidung. Meistens führt das dazu, dass dann diejenigen getröstet werden müssen, die die Entscheidung doof finden. Oft muss für sie dann ein Ausgleich geschaffen werden. Das ist dann meistens sehr emotional.
Zur Zeit befürchte ich, dass wir es im aktuellen Fall nicht schaffen, bis zum Ablauf der Woche alle Innenpersonen zu beruhigen. Es fällt mir schwer, damit umzugehen. Und es macht mich traurig.